Red Dead Redemption 2 ist langsam, für manche zu langsam. Aber wir finden gerade dieses niedrige Tempo richtig gut.
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Mut zur Gemächlichkeit
Egal, welche Form von Medien wir uns heutzutage zu Gemüte führen, ständig haben wir das Gefühl, die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Konsumenten ist deutlich niedriger als noch vor einigen Jahren. Man schaue sich nur auf YouTube um. Viele Videoproduzenten packen die Highlights ihrer Clips direkt an den Anfang, um dem Zuschauer zu vermitteln: „Nein, bitte nicht nach fünf Sekunden wieder abschalten! Schau mal, was später im Video Tolles passiert!“ Nicht nur YouTuber nutzen dieses Mittel. Wenn ihr einen Trailer zu einem Kinofilm im Netz seht, sind meistens die spektakulärsten Szenen in ganz schneller Abfolge für ein paar Sekunden an den Anfang geschnitten, bevor der eigentliche Trailer beginnt.
Videospiele wie Red Dead Redemption 2 machen das (zum Glück) nicht so. Müssen sie auch gar nicht, denn wenn ihr das Westernepos einmal gekauft habt, braucht Rockstar Games euch ja nicht vor dem eigentlichen Intro die Highlight-Szenen zeigen, die ihr vielleicht erst zehn, zwanzig, dreißig Stunden später im Spiel zu sehen bekommt, um euer Interesse zu wecken. Habt ihr für ein Spiel bezahlt, ist der Hersteller zufrieden und hat seinen Gewinn gemacht. Ihr wiederum hättet wohl kaum 60 bis 70 Euro für Red Dead Redemption 2 ausgegeben, wenn ihr nicht ein Mindestmaß an Interesse an dem Titel hättet. Bei YouTubern hingegen ist das anders. Denen bringt es wenig, wenn ihr deren Videos bereits nach fünf Sekunden wieder ausmacht.
Doch Rockstar Games hat durchaus ein Interesse daran, dass ihr Red Dead Redemption 2 durchzockt beziehungsweise sehr lange spielt. Die Entwickler wollen schließlich, dass ihr deren kreative Arbeit wertschätzt. Normalerweise würde es ein so großes Studio wie Rockstar bei einem so teuren, aufwendigen Titel wie Red Dead Redemption 2 direkt von Anfang an krachen lassen, aber das tut es nicht. Es hat sich stattdessen für eine langsame Erzählweise und einen Spieleinstieg entschieden, der euch zum einen erstmal die große Open World vorenthält, zum anderen nicht direkt zu Beginn eine wilde Schießerei austragen lässt. Das ist nicht das, was Spiele dieses Formats normalerweise tun – aus berechtigtem Grund.
Viel Action verkauft viel
Wir müssen uns nur den Markt anschauen: Die meisten AAA-Spiele sind irgendwo Actionspiele, seien es nun Ego-Shooter wie Call of Duty, Action-Adventures wie Marvel’s Spider-Man oder gar Rollenspiele wie The Witcher 3: Wild Hunt, in denen ihr aktiv in Echtzeit kämpft. Die wenigsten stützen sich rein auf Rätsel oder Dialoge. Der Massenmarkt verlangt eben nach flotten, actionreichen Erlebnissen, wie es auch bei Filmen der Fall ist. Die großen Blockbuster, die heutzutage an die eine Milliarde US-Dollar oder gar noch mehr einspielen, heißen nicht „Blade Runner 2049“ oder „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, sondern „Avengers: Infinity War“, „Jurassic World“ oder „Fast & Furious“.
Ok, um den Massenmarkt zu bedienen, bieten Spiele viel Action. Das gilt auch für Red Dead Redemption 2. Zu sagen, in dem Open-World-Titel würde zu wenig geballert werden, wäre gelogen. Dennoch gibt es diverse Leute, die mit dem Spiel nicht ganz glücklich werden, weil es ein deutlich langsameres Tempo an den Tag legt als vergleichbare Titel. Die Zeitspanne zwischen großen Actionszenen ist lang und es ist auch nicht so, dass in dieser Zeit in Sachen Story immer krasse Entwicklungen stattfinden, die jeden Spieler vor den Bildschirm fesseln. Red Dead Redemption 2 hat ein sehr langsames Pacing, es lässt sich mit allem Zeit, was es bietet. Vor und nach großen Actionszenen gibt es eben lange Ruhephasen, die wir in dem Ausmaß von anderen Actionspielen gar nicht gewohnt sind. Das macht Rockstar Games mit dem ersten Kapitel direkt deutlich.
„Mach mal langsam!“
Red Dead Redemption 2 beginnt damit, dass sich die Gang von Dutch van der Linde auf der Flucht vor dem Gesetz befindet. Es startet aber nicht mit einer spektakulären Verfolgungsjagd. Die Bande zieht durch die Grizzlies, die „Red Dead“-Variante der Rocky Mountains. Es herrscht ein Schneesturm und die Outlaws suchen daher Schutz in einer der Hütten einer verlassen Bergbausiedlung. All das wird in einer knapp fünf Minuten langen Intro-Sequenz erzählt. Wenn ihr dann endlich die Kontrolle über den Protagonisten Arthur Morgan übernehmt, macht ihr minutenlang nichts anderes, als durch den Schneesturm zu reiten und dem Dialog zwischen dem Hauptcharakter und seinem Boss Dutch zu lauschen.
Zugegeben, es dauert eigentlich nur weitere fünf bis sieben Minuten, bis ihr zum ersten Mal in Red Dead Redemption 2 euren Revolver einsetzen dürft. Doch das erste Gefecht in dem Spiel ist sehr kurz, die Anzahl Gegner arg überschaubar. Spektakuläre Action sieht anders aus. Eine wirklich große Ballerei findet erst nach einer Stunde statt. Das ist, in AAA-Spiele-Maßstäben betrachtet, sehr spät.
Wir brauchen ja nur den Vergleich zu Rockstars vorherigem Spiel zu ziehen. Die erste Szene in GTA 5 ist ein Banküberfall, bei dem nach wenigen Minuten eine ganze Meute an Ordnungshütern angefahren kommt und ihr ein großes Blutbad anrichtet, das anschließend in einer Verfolgungsjagd mündet. GTA 5 lässt es erst krachen und dann stellt es euch seine Charaktere vor, so wie es viele andere AAA-Spiele auch machen. Man denke nur an die spektakuläre erste Mission in Marvel’s Spider-Man. Bevor der eigentliche Hauptplot beginnt, dringt ihr erst mal als Spidey in das Hauptquartier von Kingpin ein, um den Gangsterboss zur Strecke zu bringen. Red Dead Redemption 2 macht es gänzlich anders, deutlich gemächlicher. Das hat bei einigen Leuten dazu geführt, dass sie das Spiel schnell beiseitegelegt haben, weil ihnen zu wenig passiert ist. Auch Spieler, die durchgehalten und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt ihre Liebe zu dem Titel entdeckt haben, berichten im Netz davon, dass sie sich durch Kapitel 1 durchaus gequält hätten, weil ihnen das Tempo zu niedrig war.
„Wann lässt mich der Entwickler denn mal frei?“
Ebenso kritisieren viele, dass Red Dead Redemption 2 den Spieler zu lange an der Leine hält. Die ersten zwei Stunden sind streng linear. Erst nachdem die Gang die schneebedeckten Berge verlässt, öffnet sich die riesige Spielwelt. Klar, auch andere Open-World-Titel bringen dem Spieler erst mal in einem abgegrenzten Bereich die grundlegenden Spielmechaniken bei, aber das dauert in der Regel nicht länger als eine halbe, maximal eine Stunde. Oder man hat so einen Fall wie The Witcher 3: Wild Hunt, das euch mehrere Stunden erst mal in einem Gebiet verbringen lässt, das deutlich kleiner ist als die großen Open-World-Zonen Velen und Novigrad sowie Skellige. Doch dieses Startareal ist trotzdem immer noch relativ weitläufig und bietet bereits alle Elemente der späteren Schauplätze (Nebenquests, versteckte Schätze und Co).
Was so manchen Leuten gar nicht schmeckt, weil sie etwas anderes erwartet hatten, gefällt uns richtig gut. Red Dead Redemption 2 nimmt sich Zeit für seine Charaktere und dafür, seine Atmosphäre aufzubauen. Es will kein schnelles Actionfeuerwerk sein, das ständig noch größere Explosionen bieten muss, um die Leute bei der Stange zu halten. Rockstar Games hat zwar ein Actionspiel gebastelt, aber die Schießereien stehen nicht im Vordergrund. Wer viel ballern will, kann das machen. Die offene Welt und die damit verbundene spielerische Freiheit geben euch die Möglichkeit, ständig Leute abzuknallen und große Blutbäder anzurichten. Folgt ihr jedoch strikt der Geschichte, werdet ihr feststellen, dass etliche Missionen ganz ohne fliegende Bleikugeln auskommen. Red Dead Redemption 2 als Third-Person-Shooter zu bezeichnen, würde dem Spiel nicht gerecht werden.
Auch die arge Limitierung der spielerischen Freiheit im ersten Kapitel finden wir gut, weil sie im Kontext der Handlung Sinn ergibt. Die Gang quält sich durch einen Schneesturm, weil das ihre scheinbar einzige Chance ist, ihre Verfolger abzuschütteln. Die Bande ist zu Beginn von Red Dead Redemption 2 im wahrsten Sinne des Wortes arm dran. Da wäre es absolut unlogisch, könntet ihr mit Arthur einfach wegreiten und erst mal für ein paar Stunden in der nächsten Stadt pokern, euch besaufen oder mit den Problemen irgendwelcher Fremden befassen, während eure eigenen Leute hungern und frieren.
Freiheit soll man wertschätzen
Des Weiteren führt der lineare Einstieg in den schneebedeckten Bergen dazu, dass ihr das, was danach kommt, viel mehr wertschätzen könnt. Hier setzt der gleiche Effekt ein, wie wir ihn zum Beispiel auch aus einem Fallout 3 kennen. In dem Endzeitrollenspiel seid ihr erst mal eine Stunde lang in einem Bunker. Der Einstieg, der mit der Geburt eures Charakters beginnt und dann quasi im Schnelldurchlauf dessen Erwachsenwerden im Vault inszeniert, ist ohne jeden Zweifel sehr gut gelungen. Doch irgendwann wollt ihr unbedingt nach draußen. Ihr habt Fallout 3 schließlich gekauft, weil euch eine große, offene Spielwelt versprochen wurde und nicht, um Stunden in einem unterirdischen Gebilde zu verbringen. Dadurch, dass ihr aber eine gewisse Zeitspanne in dem Bunker „gefangen seid“, wirkt der Moment, in dem ihr durch dessen Eingangstür schreitet und zum ersten Mal euren Blick über das atomar verseuchte Ödland schweifen lässt, umso magischer.
Was in dem Rollenspiel von Bethesda der Vault ist, sind in Red Dead Redemption 2 eben die Berge. Während euch in Fallout 3 von dem Verlassen eures Geburtsortes und dem Betreten der weiten Außenwelt nur eine kurze Ladezeit trennt, zelebriert Rockstars Wild-West-Abenteuer die Rückkehr in die gemäßigte Klimazone viel mehr. Die Bande fährt mit ihren Kutschen gen Süden und je weiter sie voranschreitet, desto geringer werden die Schneemassen auf dem Boden, den Büschen und Bäumen, bis irgendwann gar kein Weiß mehr zu sehen ist und sich die volle Schönheit der Spielwelt vor euren Augen entfaltet. Und dann kommt eben wieder das Erzählerische hinzu: So wie ihr darüber erfreut seid, endlich was anderes als Schnee zu sehen und spielerische Freiheit zu erhalten, so sind Arthur und die anderen Gauner erleichtert, die kalte Region endlich hinter sich gelassen zu haben und vorerst in Sicherheit zu sein.
Mut zur Andersartigkeit
Red Dead Redemption 2 ist ein Ausnahmespiel – in vielerlei Hinsicht. Sein niedriges Pacing ist ein Grund dafür. Rockstar Games hat großen Mut bewiesen, auf ein so langsames Tempo zu setzen. Normalerweise würden wir so etwas von Indie-Spielen erwarten, denen manche Leute gerne den „Artsy-fartsy“-Stempel aufdrücken, aber doch nicht von einem AAA-Spiel. Red Dead Redemption 2 ist das vermutlich teuerste Spiel des Jahres, das aufwändigste ist es definitiv, ebenso das wichtigste, bedeutendste und am Ende wahrscheinlich auch erfolgreichste. Das ist ja auch kein Wunder, genießt Rockstar Games nicht nur ein sehr hohes Ansehen bei Videospielkritikern und Core Gamern, sondern hat mit GTA 5 auch mal eben eines der am meisten verkauften Spiele aller Zeiten veröffentlicht. Jeder andere Entwickler hätte aus Red Dead Redemption 2 das gemacht, was scheinbar viele Spieler erwartet haben: ein GTA im Wilden Westen. Doch genau das ist es eben nicht.
Ja, beide Spiele haben in etwa die gleiche Open-World-Struktur, ähneln sich in ihrer Steuerung, Inszenierung und allgemein der Art der Erzählweise. In GTA 5 finden viele Dialoge statt, während ihr durch Los Santos fahrt, in Red Dead Redemption 2 beim Reiten durch die Prärie. Aber die Geschichte des letzteren Spiels, deren Tonalität und Erzähltempo unterscheiden sich grundlegend von dem, was euch GTA 5 auftischt. Nichts anderes haben wir gewollt. Es wäre doch schade, wenn es einfach nur das Gleiche in Grün wäre.
Rockstar pfeift auf Konventionen
Red Dead Redemption 2 ist weder eine Satire noch ein spielbarer Actionfilm. Es ist ein Drama um eine Bande von Outlaws, die in der Zeit stehen geblieben sind, für die es in der „modernen“ Welt des Jahres 1899 keinen Platz mehr gibt. Action gibt es dennoch genug, gerade gen Ende. Aber der Titel ist eben kein stumpfes interaktives Popcorn-Kino, sondern will mehr. Rockstar hat es sich getraut, ein Mainstream-Spiel zu entwickeln, das eigentlich gar kein Mainstream-Spiel ist, weil es sich nicht sklavisch an die Massenmarktkonventionen hält. Dieser Mut wird mit herausragenden Kritiken, sehr guten Verkaufszahlen und vielen positiven Worten seitens der Spieler belohnt. Aber zeitgleich hat er auch dafür gesorgt, dass Red Dead Redemption 2 eben die Gemüter spaltet. Es ist kein Spiel für jedermann.
Rockstar Games hat es sich getraut, so viel Geld in ein Spiel zu investieren, für das andere Entwickler deutlich weniger Budget von ihrem Publisher zur Verfügung gestellt bekämen. Natürlich hat das Studio eine Ausnahmestellung in der Branche. Aber vielleicht führt der Erfolg von Red Dead Redemption 2 dazu, dass sich andere Hersteller in Zukunft ähnlich mutig zeigen. Klar spielen wir gerne die simplen, leicht verdaulichen Actionspiele, wie sie jedes Jahr massenweise erscheinen. Aber ab und zu darf es auch gerne mal anspruchsvoller, tiefgründiger sein. Und das geht eben schlecht, wenn ein Spiel nur von einer spektakulären Szene zur nächsten hetzt. Komplexe Geschichten mit vielschichtigen Charakteren brauchen Zeit. Red Dead Redemption 2 nimmt sie sich und macht damit alles richtig. Wem das nicht zusagt, der spielt halt was anderes.