Temtem könnte eine ganz große Erfolgsgeschichte werden (ist es eigentlich schon) und das vollkommen zurecht.
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Temtem Vorschau: Pokémon als PC-MMO mit Anspruch
Im Januar hat nicht nur das missglückte Remaster von Warcraft 3 für Aufsehen gesorgt, sondern auch Temtem. Der Name mag seltsam klingen, aber das Spiel dahinter birgt nicht nur jede Menge Potenzial, es macht schon in seiner Early-Access-Version einen sehr guten Eindruck. Allerdings darf schon die Frage erlaubt sein, ob sich der spanische Entwickler Crema Games nicht ein wenig zu sehr am großen Vorbild Pokémon orientiert hat.
(Sehr) vertrauter Einstieg
Jedes Mal, wenn wir mit irgendjemandem über Temtem sprechen, fällt es uns schwer, nicht Wörter wie Pokémon, Trainer und Pokédex in den Mund zu nehmen. Denn der Plan der Entwickler, ein Pokémon-artiges Spiel zu erschaffen, das nicht bloß den Besitzern einer Nintendo-Konsole vorbehalten ist und noch dazu einige Dinge besser macht als das Original, beinhaltete scheinbar auch, gar nicht allzu sehr davon abzuweichen, was Game Freak seit über 20 Jahren macht. Wer nur einen flüchtigen Blick auf Temtem wirft, könnte es schnell als dreisten Klon abstempeln.
Gut, hier erstellt ihr euch euren Charakter selbst, während es die Pokémon-Reihe bloß soweit geschafft hat, dass ihr euch in Schwert und Schild einen von acht vorgegebenen Avataren aussuchen dürft. Aber nachdem ihr euch einen Protagonisten in dem noch recht übersichtlichen Editor zusammengeklickt habt, erlebt ihr so ziemlich genau das, was euch auch zu Beginn jedes Pokémon-Spiels erwartet: Ihr startet in eurem Heimatdorf, lernt euren Rivalen kennen und holt euch bei Professor Ei…ähem, Verzeihung, Konstantinos euer Starterpok….äh, wir meinen -temtem ab. Aus drei Stück könnt ihr wählen, immerhin sind es aber nicht ein Feuer-, Wasser- und Pflanzenwesen, sondern ein Kampf-, -Mental- und Kristallmonster.
Die Gemeinsamkeiten mit Pokémon hören nach dem Intro noch längst nicht auf. Nicht nur, dass Crema Games sich das gesamte Spielprinzip abgeschaut hat, auch viele Details haben die Spanier eins zu eins übernommen. Zum Beispiel findet wo ihr wilde Temtem? Natürlich im hohen Gras! Wo auch sonst? Was in Pokémon der Pokédex ist, heißt hier Tempedia. Trainer heißen Bändiger. Pokébälle sind Temkarten. Die Städte sind durch recht lineare Wege miteinander verbunden, auf denen ihr an jeder Menge (fast zu vielen) anderen Bändigern vorbeikommt, die euch zum Kampf herausfordern (was ihr nicht ablehnen könnt). Zudem gibt es in fast jeder Stadt eine Aren…äh, ein Dojo. Besiegt ihr den dortigen Leiter, erhaltet ihr stets eine nette Belohnung – aber keinen Orden! Wo sind wir denn hier, etwa bei Pokémon?!
Starke Duos
Auch spielerisch gibt es reichlich Gemeinsamkeiten mit dem großen Vorbild aus Fernost. Ihr sammelt Temtem, die in Kämpfen Erfahrungspunkte sammeln, dadurch immer weiter im Level aufsteigen, neue Attacken erlernen und sich mitunter zu stärkeren Formen weiterentwickeln. Die Monster sind diversen Typen zugeordnet, darunter die Feuer, Wasser, Natur, Wind, Erde, Gift und Kampf. Natürlich ist Typ A effektiv gegen Typ B, der wiederum stark gegen Typ C ist und so weiter.
Die Kämpfe in Temtem laufen genau wie in Pokémon rundenbasiert ab. Doch spätestens hier dürfte euch auffallen, dass Crema Games nicht einfach alles kopiert, was Game Freak etabliert hat, sondern es mit eigenen Ideen mischt. Unterschied Nummer 1 zu Pokémon: In Temtem kämpft ihr stets mit zwei Monstern zeitgleich. Das liegt vor allem daran, dass wir hier von einem MMO sprechen, das ihr komplett im Koop mit einem weiteren Spieler zocken könnt (was auf Pokémon auch nicht zutrifft). Da war es für die Entwickler der logische Schritt, auf ein 2-gegen-2-System zu setzen. Im Team befehligt jeder von euch ein Temtem, zudem kann jeder insgesamt im Kampf nur drei einsetzen (solo sind es wie bei Pokémon sechs).
Coole Kniffe
Die Duomechanik ist aber nicht nur im Spiel, weil der Koop-Aspekt so für Crema leichter umzusetzen war. Das Gameplay profitiert auch davon, weil es zum Beispiel Synergie-Effekte gibt. Manche Attacken erhalten noch Boni, wenn ein Partnertemtem eines gewissen Typs auf dem Feld steht, was eine nette Idee ist. Noch besser gefällt uns hingegen das Ausdauersystem. In Pokémon ist es bekanntlich so, dass es für jede Attacke ein Limit gibt, wie oft ihr sie einsetzen könnt, ohne zwischendurch ein Pokémon Center zu besuchen. In Temtem hingegen verbraucht jede Fähigkeit Ausdauer, die sich zwischen den Kampfrunden regeneriert. Starke Attacken kosten logischerweise mehr Energie als schwächere.
Ist nicht ausreichend Ausdauer für einen Skill vorhanden, könnt ihr ihn zwar trotzdem nutzen, doch das verbraucht dann Lebensenergie. Ihr habt aber in jeder Runde die Möglichkeit, euren Temtems eine Ruhepause zu gönnen, um Ausdauer zu sparen. Das System führt immer wieder dazu, dass ihr taktische Entscheidungen treffen müsst, zumal es auch Fähigkeiten gibt, die ihr erst nach einer bestimmten Anzahl Runden einsetzen dürft. Da stellt ihr euch oft genug die Frage, ob ihr nun Attacke A einsetzen oder lieber die Energie aufsparen sollt, um in der nächsten Runde die stärkere Attacke B zu verwenden. Uns persönlich gefällt diese Mechanik besser als das Nutzungslimit in den Pokémon-Spielen, aber das ist Geschmackssache. Gut durchdacht ist es allemal.
Genau das richtige Maß an Anspruch
Was uns aber vor allem an Temtem gefällt: Es ist nicht anspruchslos. Die Pokémon-RPGs sind gefühlt von Generation zu Generation immer einfacher geworden, um ja niemanden zu frustrieren. In Schwert und Schild ist es nahezu unmöglich, dass euer komplettes Team den Geist aufgibt. Und dass der EP-Teiler kein optionales Item mehr ist, sondern er euch als Standardfeature aufgezwungen wird, finden wir auch nicht toll. Temtem ist anders. Temtem ist schwierig. Nicht zu schwierig, dass ihr ständig euer gesamtes Team verliert, aber ihr müsst in Kämpfen wirklich wohlüberlegt vorgehen sowie auf die Stärken und Schwächen der einzelnen Monstertypen achten.
Heil-Items sind überlebenswichtig, weshalb wir fast unser gesamtes Geld immer für Salben ausgegeben haben. Die Wege zwischen den Städten sind aber auch stets relativ lang. Zwar findet sich oftmals ein Temporium (das Äquivalent zum Pokémon Center) mitten auf einer Route, aber davor und dahinter lauern so viele kampfeslustige Bändiger, dass ihr trotzdem oftmals in Bedrängnis kommen werdet. Temtem sieht zwar niedlich aus, ist aber kein Zuckerschlecken – und das finden wir super. Hier lohnt es sich wirklich, die eigenen Temtems zu trainieren. Doch keine Bange: In argen Grind artet das Spiel nicht aus, zumindest nicht so weit wir das bislang einschätzen können.
Noch einige Baustellen
Die Early-Access-Fassung von Temtem soll rund 50 Prozent der Inhalte des finalen Spiels umfassen. Crema Games verspricht, dass ihr bereits 20 Stunden lang beschäftigt sein sollt, Endgame-Aktivitäten wie die Jagd nach besonders seltenen Monstern, den Luma Temtem (das Gegenstück zu den Shinys in Pokémon), nicht miteingerechnet. Von den sechs Gebieten, die es später einmal geben soll, könnt ihr drei Stück erkunden. Allerdings sind auch die noch längst nicht fertig.
Schon auf der ersten Insel sind wir an vielen Orten vorbeigekommen, an denen ein "Work in Progress"-Schild darauf hinweist, dass dort später mal was sein wird. Ein komplettes Areal auf dem Starteiland bleibt euch derzeit noch verschlossen. Das könnte auch dazu beitragen, dass der Spielablauf bislang recht linear wirkt – etwas, das uns an Pokémon Schwert und Schild gestört hat. Viele Abzweigungen gibt es in der Welt von Temtem ebenfalls nicht. Die Routen zwischen den Städten sind eben lange Schläuche.
Das heißt aber nicht, dass es gar keine optionalen Gebiete gibt. Auf der Startinsel zum Beispiel befindet sich eine Höhle, die ihr zunächst gar nicht betreten könnt, weil der einzige Weg dorthin übers Wasser führt. Erst mit dem Surfbrett, das ihr als Belohnung für den Sieg über die Leiterin des ersten Dojos erhaltet, könnt ihr das unterirdische Areal aufsuchen. Dort führt euch aber keine Hauptquest hin.
Unterhaltungen, die Freude machen
Generell lohnt es sich, in Temtem jeden Flecken Erde zu erkunden und mit jedem NPC zu sprechen. Überall findet ihr Kisten, die nützliche Items enthalten und die Bewohner der Welt haben zum Teil kleine Nebenaufgaben für euch. Die drehen sich in der Regel bloß darum, bestimmte Items zu beschaffen. Sonderlich kreatives Questdesign dürft ihr von dem Spiel nicht erwarten. Aber die Belohnungen sind es stets wert, die Missionen nicht zu ignorieren.
Ein anderer Grund, warum wir gerne mit jedem NPC gequatscht haben, sind die Dialoge selbst. Die sind zwar nicht vertont, was bei einem Indie-Spiel wie Temtem, das per Kickstarter finanziert wurde, kaum verwunderlich ist, aber schön geschrieben und vor allem richtig gut ins Deutsche übersetzt. Ja, Temtem ist trotz Early-Access-Phase und der Tatsache, dass der offizielle Release frühestens im 2. Quartal 2021 erfolgen soll, bereits komplett lokalisiert. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat einen tadellosen Job gemacht. Die Texte sind sehr charmant und bieten immer wieder was zum Schmunzeln. Da ist auch die eine oder andere popkulturelle Referenz dabei, etwa wenn sich uns Gabriel der Graue in den Weg stellt und sagt: "Du kannst hier nicht vorbei!"
Die Welt bietet nicht nur Monster
Was uns allgemein gut gefällt, ist der recht erwachsene Ton von Temtem. Damit meinen wir nicht, dass das Spiel für Kinder ungeeignet sei, was definitiv nicht der Fall ist. Aber der große Unterschied zu Pokémon ist, dass Crema eine Welt gebaut hat, in der sich nicht alles bloß um die namensgebenden Monster dreht. Hier werden auch mal andere Themen angesprochen, sei es die Mythologie, ein vergangener Krieg oder auch einfach die Begeisterung mancher Leute für Luftschiffe. Dadurch wirkt das Szenario deutlich glaubhafter als die Pokémon-Welt.
Für euch als Spieler stehen trotzdem die Temtems im Mittelpunkt. In der Early-Access-Fassung sind derzeit 86 Stück enthalten, im fertigen Spiel sollen es fast doppelt so viele sein. Schon jetzt kann sich die Bandbreite sehen lassen. Die meisten Monster sind an Tiere angelehnt. Skail zum Beispiel ist ein Eichhörnchen und deutlich als solches zu erkennen, Tateru ähnelt einem Hasen. Hier und da fühlt man sich sehr deutlich an bekannte Pokémon erinnert. Die Ente Saipat zum Beispiel ist quasi der Enton-Verschnitt von Temtem (wobei der Wasservogel mit seinem Minidreizack und dem Muschelhelm trotzdem etwas eigenes hat) und Kulvir erinnert schon sehr an Tragosso.
Alles in allem strotzen die Temtem-Designs nicht vor Kreativität und vermutlich wird keines der Wesen auch nur annähernd so ikonisch werden wie Pikachu, Glumanda und Co. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nicht in ein paar der Monster verliebt haben. Platypet, ein Wasser-/Gift-Temtem, das einem Schnabeltier ähnelt, ist zum Anbeißen süß und das bereits erwähnte Saipat gehört auch zu unseren Favoriten. Die Viecher sind aber auch einfach in den Kämpfen putzig animiert und geben teilweise sehr niedliche Geräusche von sich.
Sieht nett aus (wörtlich gemeint)
Überhaupt gefällt uns Temtem visuell gut. Die Technik mag simpel sein. Temtem ist kein Grafikbrett und sieht auch nicht um Längen besser aus als Pokémon Schwert und Schild (abseits der wirklich altbacken wirkenden Naturzone). Aber im Gegensatz zu den Spielen des AAA-Herstellers aus Japan, für deren Entwicklung mit Sicherheit deutlich mehr Budget zur Verfügung stand, wirkt Temtem schon in dieser frühen Phase deutlich polierter. Auf unserem Testrechner läuft das Spiel absolut flüssig und so etwas wie Charaktere, die auf kurze Distanz ins Bild poppen, gibt es nicht – allerdings erkundet ihr die Welt hier auch aus der Vogelperspektive und nicht der klassischen Third-Person-Ansicht, was diesem Problem vorbeugt.
Temtem ist sehr bunt, sehr knuffig und sprüht nur so vor Charme. Die idyllische Musik trägt ihren Teil dazu bei, dass wir uns in der Welt einfach gerne aufhalten. Allerdings werden wir von einem nervigen Bug öfters aus ihr herausgerissen: Am Release-Tag und auch kurz danach gab es viele Serverprobleme plus lange Warteschlangen. Diese Phase hat Temtem überwunden. Doch trotzdem kommt es immer wieder noch dazu, dass sich das Spiel "aufhängt". Beispiel: Wir schließen eine Nebenquest ab und sollen eine Belohnung in Form eines Gegenstands erhalten. Doch anstatt, dass sich ein Textfenster öffnet, in dem steht, was wir bekommen, passiert nichts. Temtem läuft zwar noch, wir können aber absolut gar nichts machen und müssen das Spiel per Taskmanager beenden. Klar, mit so was muss man bei einem Early-Access-Titel rechnen, ärgerlich ist es trotzdem.
Einschätzung
Wer unseren Test zu Pokémon Schwert und Schild gelesen hat, wird wissen, dass uns die jüngste Pokémon-Generation enttäuscht hat. Temtem kommt nun ein bisschen wie ein Trostpflaster daher. Es ist nicht das, was wir uns für die ersten Switch-Teile der JRPG-Reihe gewünscht hatten, aber es macht einiges besser. Es stellt vor Herausforderungen, es kommt trotz der niedlichen Optik recht erwachsen daher, die Kämpfe machen Spaß, die Sammelei motiviert und die MMO-Aspekte fügen sich gut ein, ohne Solospieler zu stören. Temtem ist noch weit von der Fertigstellung entfernt, fühlt sich aber schon jetzt richtig gut an und bietet genug Inhalt fürs Geld. Das ist ein Spiel, das jeder Pokémon-Fan, der mit Schwert und Schild nicht warmgeworden ist, im Auge behalten sollte.