Ich habe viele hochkarätigen Spielen nicht durchgezockt, aber wieso sollte ich mich dafür schämen?
Ein "Pile of Shame" ist keine Schande
The Witcher 3: Wild Hunt. Red Dead Redemption 2. GTA 5. Fallout: New Vegas. God of War. Divinity: Original Sin 2. Was haben all diese Spiele gemeinsam? Richtig, sie sind erwiesenermaßen fantastische Werke, die uns in mal mehr, mal weniger fremde Welten entführen, mit ihren Geschichten in den Bann ziehen, auf spannende Missionen schicken. Da wäre aber noch etwas: Sie sind allesamt auf meinem Stapel der Schande oder, wie man allgemein im Internet sagt, "Pile of Shame". Ich habe all diese Titel kein einziges Mal durchgespielt. Mal habe ich sie mittendrin abgebrochen, mal immer wieder in größeren Zeitabständen von neuem angefangen, um mich dann nach wenigen Stunden wieder in anderen virtuellen Welten zu verlieren.
"Du hast was…?!"
"Waaas?! Du hast Witcher 3, GTA 5 und Red Dead 2 nicht durchgespielt?! Was bist du denn für ein Videospielredakteur?!" Ja, ich weiß, das mag vielleicht nicht das beste Licht auf mich werfen. Immerhin gehören diese Titel zu den besten Spielen dieses Jahrzehnts. Sie gelten als Meilensteine innerhalb ihrer Genres und ich würde zu keiner Sekunde dagegen argumentieren.
Ich liebe Red Dead Redemption 2, würde es mittlerweile sogar als mein absolutes Lieblingsspiel bezeichnen (womit es das gute alte Mafia nach stolzen 15 Jahren vom Thron gestoßen hat). Wie ich das tun kann, wenn ich es doch gar nicht in Gänze erlebt hab? Nun, ich behaupte ja nicht, dass Red Dead Redemption 2 das objektiv betrachtet beste Spiel aller Zeiten ist.
Wenn aus einem Videospiel ein zweites Leben wird
Warum habe ich nun also das Western-Epos von Rockstar Games oder CD Projekts Dark-Fantasy-RPG oder die anderen genannten Hits nicht durchgespielt? Nun, das hat mehrere Gründe. Im Fall von Red Dead Redemption 2 ist vor allem ein Aspekt entscheidend: mein Spieltempo. Der Open-World-Kracher ist ja schon von Haus aus ein sehr umfangreiches Spiel, mit dem sich locker 60 Stunden verbringen lassen. Bei mir könnte man aber locker nochmal 40 Stunden dazurechnen, würde ich es irgendwann mal durchspielen. Denn Red Dead Redemption 2 ist einer dieser Titel, der so immersiv, so atmosphärisch ist, dass ich mich komplett in seiner Welt verliere. Ich gehe in der Rolle von Arthur Morgan komplett auf, ich "rollenspiele" diesen Charakter.
Ich renne nicht durch die Gegend, wenn es die Situation gerade nicht erfordert, ich nutze mit Ausnahme des Zuges (und den auch eher selten) keine Schnellreisefunktion. Mit dem Pferd galoppiere ich nicht durch Städte, sondern bewege mich maximal im Trab fort, damit niemand versehentlich unter die Hufe gerät. Und dann kommt noch hinzu, dass ich viel Zeit damit verbringe, Tiere zu jagen, stundenlang zu pokern, hier und da mal die Angel auszuwerfen oder auch bloß einen Farmer auszurauben (und dann große Reue zu empfinden).
Ich weiß nicht genau, wie lange ich Red Dead Redemption 2 gespielt habe, weil weder die PlayStation 4 noch das Spiel selbst die Spielzeit zählt. Es dürften aber locker 40, 50 Stunden gewesen sein. In dieser Zeit bin ich gerade mal bis Kapitel 4 gekommen – von sechs (oder acht, wenn man den zweiteiligen Epilog hinzuzählt).
Das Angebot wächst – und zwar sehr schnell
Der zweite Grund, warum ich nicht weiter kam: Es sind seit dem 26. Oktober 2018, dem Release-Tag von Red Dead Redemption 2, so viele andere gute Spiele erschienen, die ich entweder getestet habe oder die mich so neugierig gemacht haben, dass ich sie einfach privat spielen musste. Jede Woche erscheinen zig neue Werke auf Steam, dann kommen noch die Konsolen dazu. Wir leben in einer Zeit, in der wir mit Spielen schlichtweg überflutet werden. Gerade das jährliche Herbstgeschäft wirft jedes Mal die Frage auf, wie man das alles, was da erscheint, eigentlich spielen soll. Die Publisher quetschen all ihre großen Blockbuster gerne in die Zeit von September bis November.
Teilweise erscheinen sehnlichst erwartete Titel sogar am selben Tag. Man denke nur an den 27. Oktober 2017, an dem Super Mario Odyssey, Assassin's Creed Origins und Wolfenstein 2: The New Colossus auf den Markt gekommen sind. Diese Woche übrigens landen Call of Duty: Modern Warfare und The Outer Worlds zeitgleich im Handel – und beide zählen für mich zu den Must-have-Spielen in diesem Herbst. Allein die Frage, welches der beiden ich kommenden Freitag als erstes spielen werde, bereitet mir Kopfzerbrechen.
Spiele werden immer größer
Doch nicht nur die Masse an interessanten Spielen begünstigt das stetige Wachstum meines "Pile of Shame", sondern auch deren Größe. Die Blockbuster, die nach maximal zehn Stunden durchgespielt sind und dann zur Seite gelegt werden können, sind heutzutage eine Seltenheit. Entweder haben wir es mit Open-World-Giganten zu tun, die uns 40 Stunden oder gar noch länger beschäftigen und neben einer umfangreichen Hauptgeschichte zahlreiche optionale Inhalte bieten, oder es sind Servicegames, die uns durch Multiplayer-Fokus und ständigen Content-Nachschlag an sich binden wollen.
Klar kann man die Story von Destiny 2 in rund 20 Stunden durchspielen (alle bisherigen Add-ons mitgerechnet), aber sind wir doch mal ehrlich: Erstens sind 20 Stunden nicht wenig, auch wenn man in Zeiten von 60- bis 100-Stunden-Epen dazu geneigt ist, so was als "eher kurzes Spiel" zu bezeichnen. Zweitens spielt doch niemand Destiny 2 nur für die Story, oder? Wer sich, bevor er Bungies Loot-Shooter installiert, darüber informiert hat, der weiß doch, dass er erst im Endgame seinen vollen Reiz entfaltet: mit spannenden Koop-Inhalten, dem PvP und der nahezu endlos motivierenden Loot-Spirale.
Wir haben es also in der heutigen Zeit mit vielen Spielen, die viel Inhalt bieten, zu tun. Und da soll ich als jemand, der sich in Welten wie die von Red Dead Redemption 2 so sehr fallen lässt, es schaffen, sie alle durchzuspielen und keinen "Pile of Shame" anzuhäufen? Versteht mich nicht falsch! Ich möchte nicht die Branche dafür anklagen, dass sie zu viele gute und umfangreiche Titel auf den Markt bringt, nur um mich selbst davon abzulenken, dass es mir teilweise an Selbstbeherrschung mangelt. Denn wenn ich mich zusammenreißen würde, könnte ich auch erstmal jedes Spiel durchspielen, bevor ich mit dem nächsten anfange.
Der "Zwang", mitreden zu wollen
Aber ihr kennt das vielleicht auch: Ein neuer Blockbuster kommt auf den Markt und sofern dessen Spielprinzip euch anspricht, wollt ihr einfach im Netz mitreden können. Ein halbes Jahr nach Release diskutiert eben kaum noch jemand in den sozialen Netzwerken oder Spieleforen über ein God of War, ein The Witcher 3 oder ein Red Dead Redemption 2.
Das ist wie bei mir mit meinem aktuellen Serienkonsum: Ich hole derzeit "Game of Thrones" nach und habe niemanden, der es gerade auch schaut und mit dem ich mich nach jeder Folge über das austauschen kann, was jüngst in Westeros geschehen ist. Das einzige, was ich machen kann: den Arbeitskollegen, der die Serie "damals" geschaut hat, als sie aktuell war, darauf anzusprechen, dass ich ja gerade Folge XY gesehen habe und da was total Krasses geschehen ist, was mich total überrascht hat. Ich möchte mich über solche Dinge mit anderen austauschen und das geht eben dann am besten, wenn die Materie, über die man spricht, frisch erschienen ist. Und bei Spielen ist mir das eben wichtiger als bei Serien, wie ihr vielleicht daran merkt, dass ich jetzt erst "Game of Thrones" schaue.
Wenn's doch nur Spiele wären…
Serien sind übrigens ein gutes Stichwort. Denn es ist ja nicht so, als ginge meine gesamte Freizeit für Videospiele drauf. Ich habe Netflix, Amazon Prime und (gezwungenermaßen) neuerdings auch Sky Ticket abonniert. Ich bin großer Filmfan, gehe gerne ins Kino, und habe einen ewig langen "Pile of Shame" für Serien (den ich nur langsam abbaue, weil ich eben so viel Zeit mit Spielen verbringe).
Das Entertainment-Angebot ist heutzutage so groß und vielfältig wie nie zuvor. Der Satz "Es gibt so viel Kram auf Netflix und Co, dass man das alles gar nicht in einem Leben schauen kann" kommt ja nicht von ungefähr. Schließlich muss man hin und wieder ja auch noch arbeiten, schlafen, sich der Körperhygiene widmen oder essen – gut, letzteres geht auch ganz gut beim Zocken oder Netflix gucken. Ich bin heilfroh, dass ich nicht auch noch ein großer Anime-, Manga- oder Comic-Fan bin. Und Bücher lese ich schon seit Jahren nicht mehr. Man kann sich eben nicht für alle Formen von Medien beziehungsweise Kunst interessieren. Der Tag hat nur 24 Stunden. Es reicht ja schon, nur eine Form von Unterhaltungsmedium zu konsumieren, um bei der Masse an Werken nicht, die ständig neu auf den Markt gespült wird, nicht hinterherzukommen.
Nur kein Druck!
Wichtig ist am Ende, dass man sich von dieser Masse nicht erdrücken lässt. Ich denke zwar sehr oft daran, welche großartigen Spiele ich noch unbedingt durchgespielt haben möchte. Ich will auf jeden Fall irgendwann mal den Abspann von Red Dead Redemption 2 sehen und das nicht in einem YouTube-Video. Ich will wissen, wie die Geschichte von Geralt von Riva und seiner Ziehtochter Ciri ausgeht. Aber ich sollte mir selbst keinen großen Druck machen, immerhin geht es nur um so etwas Banales wie Videospiele.
Einen "Pile of Shame" zu haben, ist nichts, wofür man sich schämen muss. Tue ich auch nicht. Ich bedauere es, Witcher 3, GTA 5 und Co (noch) nicht durchgespielt zu haben. Aber ich empfinde keine Scham, während ich gerade diesen Artikel schreibe und damit offen zugebe, jene Meisterwerke noch nicht beendet zu haben, obwohl ich etliche Stunden in sie versenkt habe und sie schon vor Jahren veröffentlicht wurden. Es kam eben immer etwas dazwischen, das mich in der jeweiligen Zeit plötzlich mehr ansprach. Und man sollte doch stets die Unterhaltungsmedien konsumieren, auf die man am meisten Lust hat.
Wenn ihr also auch einen großen "Pile of Shame" habt, auf dem richtig gute Spiele liegen, macht euch keinen Kopf darum! Wenn ihr eben größeres Interesse daran habt, was anderes zu zocken, dann macht das. Spiele sollen Spaß machen und ihr sollt immer das spielen, was euch in der jeweiligen Situation am meisten Freude bereitet. Und betrachtet es doch mal von einer anderen Seite: Wenn ihr wie ich zum Beispiel Red Dead Redemption 2 noch nicht durchgespielt habt (mal ausgeklammert, dass ihr vielleicht ein reiner PC-Spieler seid und noch bis zum 5. November warten müsst), dann könnt ihr euch darauf freuen, diese tolle Erfahrung noch machen zu dürfen. Die, die es bereits durchgespielt haben, werden dieses Erlebnis, die Geschichte zu ersten Mal zu erleben und von den Wendungen überrascht zu werden, nie wieder haben. Ihr und ich, wir haben das noch vor uns. Und das ist doch eigentlich etwas sehr Wunderbares.