Jedes zweite Spiel hat heutzutage eine Open World. Aber nur wenige Entwickler scheinen deren Sinn verstanden zu haben.
Die moderne Open World und ihre langweiligen Weiten
Die Open World – ein Begriff, der heutzutage die Geister scheidet. Die einen frohlocken, wenn sie hören, dass ein frisch angekündigtes Spiel von den Entwicklern als gigantisches Abenteuer mit einer riesigen, offenen Spielwelt bezeichnet wird, die anderen reagieren darauf lediglich mit einem müden Gähnen. Was vor 15 bis 20 Jahren noch eine absolute Besonderheit war, ist heute nicht mehr nur ein Trend in der Branche, es ist gefühlt der Standard für AAA-Titel. Man schaue sich nur mal den Release-Kalender für 2019 an: Mit Days Gone, Rage 2, Far Cry: New Dawn, The Division 2, Crackdown 3 und Anthem sind bereits zahlreiche Open-World-Spiele erschienen. In den nächsten Monaten erwarten uns unter anderem Ghost Recon: Breakpoint, Biomutant, vielleicht Dying Light 2 und sicherlich noch der eine oder andere Titel, der erst auf der E3 angekündigt wird.
Die noch fernere Zukunft wird ebenfalls stark von den Open Worlds geprägt sein. Cyberpunk 2077, Death Stranding, Beyond Good and Evil 2, das nächste (noch unangekündigte) Assassin's Creed, Ghost of Tsushima – sie alle werden uns mit gigantischen Spielwelten zum Kauf verlocken wollen. Doch was uns früher zum Jubeln gebracht hat, ruft bei uns heutzutage nur noch ein "Och, ja, mal schauen, wie sie [die Entwickler] es hinbekommen" hervor. Eine offene Spielwelt an sich ist längst nicht mehr das Killer-Feature, das sie noch vor circa 20 Jahren war, als GTA 3 mit seiner belebten 3D-Stadt Liberty City (oder Gothic mit der glaubwürdig wirkenden Minenkolonie auf der Insel Khorinis) beeindruckten. Große Karten kann heutzutage jeder bauen, entscheidend ist, wie diese Flächen genutzt werden. Und da versagen leider viel zu viele Spiele. Einer der Gründe dafür: Die Entwickler haben den Reiz der Open World nicht verstanden.
Zwei vollkommen unterschiedliche Spiele, ein gemeinsames Problem
Lasst uns unsere These anhand zwei aktueller Beispiele erörtern: Days Gone und Rage 2. Beide sprechen jeweils eine ganz andere Art von Spielertyp an. Days Gone richtet sich an Fans von Zombie- und Survival-Spielen, die weniger ballern und dafür mehr schleichen sowie eine wahrlich gefährliche Welt durchstreifen wollen. Rage 2 hingegen verspricht, dem Spieler das Gefühl zu geben, ein Superheld zu sein, der mit seinen Waffen und übernatürlichen Fähigkeiten jede noch so große Gegnerhorde zu Staub zerfetzt. Die große Gemeinsamkeit beider Spiele sind ihre offenen Welten, die ihr sowohl zu Fuß als auch per Fahrzeug erkunden könnt.
Wenn wir allerdings in Bezug auf diese beiden Titel das Wort "erkunden" verwenden, ist das, ehrlich gesagt, nicht mehr als eine hohle Phrase. Natürlich ist man beim Start eines Open-World-Titels erst mal gewillt, dessen riesigen Schauplatz zu erkunden. Man hat schließlich bis zu 60 Euro dafür ausgegeben, da will man auch so viel wie möglich aus dem Spiel herausholen und daher die Welt bis in den hintersten Winkel erforschen. Das Problem im Fall von Days Gone und Rage 2 ist bloß: Es gibt dort nichts Spannendes zu entdecken.
Christoph Kolumbus wäre enttäuscht
In dem PS4-Exklusivspiel Days Gone gibt es abseits von Crafting-Ressourcen sowie Benzin, das ihr für euer Motorrad braucht, keinen Grund, die Welt zu erkunden. Ihr entdeckt keine interessanten Orte, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Es gibt keinerlei Nebenquests, über die ihr einfach so im Vorbeilaufen beziehungsweise -fahren stolpert, die euch überraschen. Zwar ist in diesem Spiel nichts von Haus aus auf der Karte markiert, sodass ihr beispielsweise erst einem feindlichen Camp näherkommen müsst, damit es auf der Map verzeichnet wird. Aber jedes Lager, jedes Infizierten-Nest und jeder verlassene Kontrollpunkt der Organisation NERO ist systemisch gleich.
Ganz ähnlich verhält es sich bei Rage 2. Auch hier deckt ihr die "Points of Interests" auf der Karte erst nach und nach auf, indem ihr an ihnen vorbeifahrt oder von NPCs entsprechende Informationen erhaltet. Doch zu keinem Zeitpunkt wird euer Entdeckerherz bedient. Die Banditenlager und von Mutanten bevölkerten Kanalisationen sehen zwar allesamt anders aus und sind unterschiedlich aufgebaut, manche würden sogar solide Shooter-Levels in einem linearen Spiel abgeben. Aber bis darauf, dass ihr eben alles abknallt, was sich bewegt, erlebt ihr dort nichts Aufregendes. Abseits der wenigen Hauptmissionen, die Rage 2 bietet, betreiben die Macher so gut wie kein Storytelling. Und wenn eine Spielwelt absolut gleichförmig geraten ist und das dann nicht mal mit netten Geschichten kaschiert ist, dann ist ordentlich was schiefgegangen.
Verschenkte Freiheiten
Wie spielen wir Days Gone und Rage 2 letztendlich? Nun ja, in ersterem Fall haken wir einfach eine Mission nach der anderen ab. Von diesem Pfad weichen wir nur dann ab, wenn uns eben mitten in der Wildnis das Benzin ausgeht oder unser Motorrad kaputt ist und wir genug Schrottteile sammeln müssen, damit wir es reparieren können. In Rage 2 sorgen wir zwar in den optionalen Lagern für Chaos, sind aber einerseits schnell ermüdet, weil wir immer wieder das Gleiche tun, und regen uns andererseits darüber auf, dass wir zwischen den kurzweiligen, effektvollen Ballereien langweilige Autofahrten durch die undynamische, schlicht nicht lebendig wirkende Spielwelt machen.
Im Ödland des Shooters passiert einfach so gut wie nichts. Hier stehen mal ein paar Gegner am Straßenrand, da fordert uns jemand zu einem spontanen Rennen heraus, aber das war es dann fast schon. Rage 2 wäre als lineares Spiel mit separaten Leveln viel besser gewesen. Bei Days Gone werden wir zumindest hier und da mal von riesigen Freaker-Horden überrascht und bei den herausfordernden Kämpfen gegen diese Hundertschaften von Infizierten macht das Spiel auch wirklich Gebrauch von seiner offenen Welt. Aber macht Rage 2 irgendwas ähnlich Cooles mit seiner riesigen Ödnis, die weiter reicht, als wir mit maximaler Sichtweite blicken können? Nö!
Days Gone mag hier besser abschneiden als Rage 2, doch beide Spiele werden nicht als grandiose Beispiele für gute Open Worlds in die Geschichte eingehen. In beiden Fällen tendiert unser Anreiz, deren Welten zu erkunden, schnell gen Null und bei Rage 2 zweifeln wir sogar an den Gamedesign-Fähigkeiten der Entwickler. In der Form, wie die Open World hier gestaltet ist, macht sie das Spiel zu keinem Zeitpunkt besser, sondern nur schlechter. Die einzige Konsequenz für uns Spieler, die sich aus ihr ergibt, sind die besagten Autofahrten von Mission zu Mission, von Lager zu Lager.
Wenn selbst die ganz Großen schwächeln, …
Eine Open World sollte mehr als bloß eine Kulisse sein. Sie sollte spielerisch genutzt werden, indem man ihr als Entwickler eine gewisse Dynamik verleiht und den Spieler mit einzigartigen, erinnerungswürdigen Orten zum Entdecken einlädt. Gerade Letzteres machen heutzutage nur noch wenige Spiele. Selbst ein The Witcher 3: Wild Hunt, so großartig es auch in Sachen Story, Charaktere und Quests sein mag, fängt mit seiner riesigen Welt zu wenig an.
Ja, es gibt sehr viele Nebenquests und Hunderte an Fragezeichen auf der Weltkarte versprechen zunächst auch viel zum Entdecken. Doch auf kaum eine Quest stoßt ihr zufällig abseits der Straßen und Siedlungen, hinter den Fragezeichen verbergen sich generische "Copy & Paste"-Aktivitäten und dynamische Ereignisse gibt es gar nicht. Die sehr schön gestaltete Welt trägt sicherlich dazu bei, dass The Witcher 3 eine sehr dichte Atmosphäre hat, und es ist einfach herrlich, mit Plötze in den Sonnenuntergang zu reiten. Aber rein spielerisch hätten es auch einzelne Levels, die ihr per Weltkarte direkt ansteuert, getan.
…aber die Kleinen glänzen
Die Vergangenheit hat bereits mehrfach gezeigt, wie eine gute Open World auszusehen hat. Wie gerne erinnern wir uns an die ersten beiden Gothics, in denen es gefühlt hinter jedem Felsen und Baum etwas zu entdecken gibt? An diesem Erlebnis hält Piranha Bytes bis heute fest. Die Essener gehören zwar schon lange nicht mehr zu den führenden Entwicklern auf dem Gebiet der Open-World-Rollenspiele (was zu ihren Anfangszeiten definitiv der Fall war, Gothic 1 erschien immerhin vor Morrowind), aber mit Elex haben sie 2017 bewiesen, dass sie zumindest in Sachen Weltdesign nach wie vor zur Speerspitze des Genres gehören.
Zugegeben: Der Mix aus Science-Fiction und Fantasy ist nicht jedermanns Sache. Manche empfanden es als etwas befremdlich, wenn auf der einen Seite die Berserker in Lederrüstung und mit Schwert, Pfeil und Bogen sowie Magie kämpfen, während auf der anderen die Kleriker in Monturen herumlaufen, die auch aus Mass Effect stammen könnten, und mit Laserkanonen um sich schießen. Aber die Detailfülle der Spielwelt, ihre organisch wirkende Flora sowie die Tatsache, dass es abseits der großen Siedlungen und Hauptstraßen immer wieder Nebenquests und interessante Orte mit besonderen Gegnern und wertvollem Loot gibt, macht die Welt von Elex zu etwas Besonderem. Dass ein so kleines Team wie Piranha Bytes es schafft, eine so große Karte mit nicht generisch wirkenden Inhalten zu füllen, ist bemerkenswert – erst recht, weil größere Studios das nicht schaffen oder sich schlicht weigern, es zu tun.
Ein Mod als Lehrstunde für große Studios
Noch peinlicher für Hersteller von AAA-Videospielen wird es, wenn sogar ein kleines Team von Moddern einen besseren Job macht. SureAI ist ein kleines Team aus Deutschland, das aktuell aus gerade mal 13 Leuten besteht, und sich mit Total Conversions für die "The Elder Scrolls"-Spiele einen Namen gemacht hat. Nehrim für Oblivion ist schon ein richtig beeindruckendes Projekt gewesen, doch mit Enderal für Skyrim haben die Hobby-Entwickler wirklich den Vogel abgeschlossen. Das ist technisch gesehen vielleicht nur eine Modifikation, inhaltlich jedoch haben wir es hier mit einem vollwertigen Rollenspielerlebnis zu tun, das sich durchaus mit Großproduktionen messen kann.
Es erzählt nicht nur eine fantastische Geschichte und ist mit bis zu 100 Stunden Spielzeit wahnsinnig umfangreich (nicht nur für ein Hobbyprojekt), seine Welt ist auch noch mit so viel Liebe gestaltet, wie wir uns das eigentlich von jedem AAA-Open-World-Titel wünschen würden. Die Karte ist nicht ganz so groß wie die von Skyrim, aber sie ist viel dichter. Alle paar Meter stoßt ihr auf einen Dungeon, eine interessante Ruine, ein Schiffswrack oder was auch immer. Überall verbergen sich kleine Geschichten, erzählt durch die Umgebung oder Briefe, die ihr findet. Und eure Erkundungstouren werden stets mit nützlichen Items belohnt. Jeder, der die normale Version von Skyrim (nicht die Special Edition) auf Steam hat, sollte sich Enderal unbedingt herunterladen. Die Mod gibt es kostenlos auf Steam und ihr müsst Skyrim nicht mal installiert, sondern nur in eurer Bibliothek haben.
Die Magie der Ablenkung
Nun malen wir aber mal nicht den Teufel an die Wand: Es gibt natürlich auch Hersteller von AAA-Spielen, die viel Mühe in die Ausarbeitung ihrer Welten stecken. Ein gutes Beispiel hierfür ist, wo wir gerade eh schon bei Skyrim waren, Bethesda Game Studios. Mit besagtem Fantasy-Rollenspiel ist es den US-Amerikanern gelungen, uns für Hunderte, manch einen sogar für Tausende von Stunden an den Bildschirm zu fesseln. Der Grund dafür ist nicht die Geschichte von Skyrim, die ist schließlich so flach wie Holland. Nein, es ist die Welt.
Wie oft wir damals den Plan fassten, Quest XY zu spielen, nur um dann von einem frisch entdeckten Gebäude am Wegesrand abgelenkt zu werden. Noch bevor wir auf die Idee kommen konnten, zurück auf die Straße in Richtung Questziel zu gehen, sahen wir in der Ferne den nächsten interessanten Ort. Auf den folgte noch einer und dann noch einer und dann noch einer, bis wir irgendwann komplett vergessen hatten, was eigentlich unser ursprünglicher Plan war. Diese Ablenkung, das Gefühl, sich in einer Spielwelt zu verlieren, das bekommen heutzutage längst nicht mehr alle Open-World-Spiele hin.
Gute Spielwelten sind halt sehr aufwändig
Vor 15 bis 20 Jahren war das noch anders, damals gab es aber auch weitaus weniger Titel, die uns diese Freiheiten boten. Dank Ubisoft-Formel und deren Abwandlungen haben wir es heutzutage mit so vielen Open Worlds zu tun, dass man gar nicht hinterherkommt, sie alle zu bereisen. Jene Schablonen haben es Entwicklern vergleichsweise einfach gemacht, große Welten mit Inhalten zu füllen, ohne dabei zu viel Aufwand betreiben zu müssen. Die paar Missionstypen in Rage 2 zu entwerfen und auf jeweils dutzende Orte zu verteilen, ist eben deutlich ressourcensparender, als wenn Avalanche für jeden Bereich der Welt eine eigene Geschichte schreibt und die in vertonten Dialogen oder gar richtigen Zwischensequenzen erzählt.
Es gibt glücklicherweise immer wieder die positiven Ausnahmen. Erst vor einem halben Jahr hat Rockstar Games mit Red Dead Redemption 2 die Open World auf ein neues Niveau gehoben, was deren Lebendig- und Glaubwürdigkeit betrifft – und jene Welt zeitgleich mit interessanten, einzigartig wirkenden Orten, die es sich lohnt zu entdecken, abseits der Hauptgeschichte gefüllt. Aber es wäre schöner, wenn so eine Spielwelt wie die von Rage 2 die Ausnahme wäre. Dann würden wir uns auch wieder von Haus aus auf jedes neue Open-World-Spiel freuen.