Life is Strange: True Colors macht fast alles richtig. Langfristig könnte die Reihe aber in einer Sackgasse enden.
Life is Strange – True Colors im Test: Traumhaft schön
Inzwischen hat sich ein gewisser Rhythmus etabliert. Auf ein Life is Strange der Hauptreihe von Dontnod folgt ein Spin-off mit einem bedeutungsschwangeren Untertitel von Deck Nine Games. Life is Strange: True Colors ist letzteres. Das Studio aus Colorado hat viel dazu gelernt und nicht die gleichen Fehler gemacht wie bei Before the Storm, zumindest weitgehend: True Colors ist auf Hochglanz poliert, die Grafik ist ordentlich und die Spielzeit kann sich sehen lassen. Zudem präsentieren uns die Entwickler eine gefühlvolle und vor allem nachvollziehbare Geschichte in einer US-Kleinstadt im Heimatbundesstaat des Teams.
Kleiner Hinweis: Life is Strange: True Colors ist ein Spiel, in dem die Story der wichtigste Aspekt ist. Wir werden also um kleinere Spoiler nicht herumkommen, um über das Spiel sprechen zu können. Harte Spoiler vermeiden wir.
Ein neues Leben in Haven Springs
Die junge Protagonistin Alex Chen hatte kein leichtes Leben. Sie schlug sich durch mehrere Kinder- und Jugendheime ohne eine echte Chance, jemals aus diesem System zu fliehen. Eines Tages gelingt es Alex’ Bruder Gabe, den Kontakt wiederherzustellen, und so bittet er sie, zurück in ihre Heimatstadt Haven Springs zu kommen. Alex sieht endlich eine reale Chance auf ein echtes Zuhause in einer liebevollen Umgebung und macht sich auf den Weg.
Obwohl das Spiel mit einem düsteren Unterton startet, wechselt die Stimmung sofort, wenn ihr mit Alex eure ersten Schritte in Haven Springs geht. Die kleine Stadt mitten in einem idyllischen Landstrich Colorados empfängt euch mit warmen Farben und vielen Details, die das Örtchen lebhaft wirken lassen. Hier und da liegt Werkzeug rum, Passanten laufen umher, Vögel zwitschern und ein kleiner Fluss plätschert vor sich hin. Wir fragen uns unweigerlich, warum jemand diesen Ort jemals verlassen sollte. Obwohl Deck Nine Games den einzigartigen Grafikstil der "Life is Strange"-Reihe weiter in Richtung Realismus bewegt hat, sieht True Colors immer noch wie ein würdiger Nachfolger aus. Aus technischer Sicht läuft der Titel bis auf kleinere Ruckler und Grafikaussetzer einwandfrei.
Kurz nach Alex’ Ankunft in Haven Springs wird schnell deutlich, dass Musik eine wichtige Rolle in Life is Strange: True Colors spielt. In den ersten Stunden schon lauscht Alex immer wieder mal unterschiedlichen Songs. Später besitzt sie sogar einen Plattenspieler und kann einen Plattenladen in Haven Springs besuchen, der sich zu einem wichtigen Ankerpunkt entwickelt. Generell bietet der Titel eine grandiose Soundkulisse. Die Musikstücke – die allermeisten sind lizensierte Stücke von echten Musikern – fügen sich stets nahtlos in die jeweilige Szene ein. Meistens läuft irgendwo ein Plattenspieler oder eine Jukebox oder Alex macht sogar selbst Musik. Lediglich bei der deutschen Synchronisationen müsst ihr ein paar Abstriche machen. Die Sprecher leisten zwar die meiste Zeit über solide Arbeit, so richtig herausragend fielen sie uns aber nicht auf. Da hilft auch Gronkhs Rolle als Deputy Pike nicht. Ehrlicherweise zählt Gronkhs Sprecherleistung sogar zu den schlechtesten.
Gravierende Entscheidungen
Direkt nach Alex’ Ankunft nehmen euch die Entwickler in Form von Gabe an die Hand und führen euch durch die wichtigsten Orte in Haven Springs. Fast beiläufig können ihr mit eurer Art der Dialogführung entscheiden, was für ein Verhältnis ihr zu Gabe haben möchtet. Seid ihr wütend? Freut ihr euch über die Geschwister-Reunion? Das alles bleibt euch überlassen und hat teils krasse Auswirkungen auf spätere Gespräche.
Das gilt für alle Entscheidungen, die ihr in Life is Strange: True Colors trefft. Seid ihr einmal unfreundlich zu jemandem, ist die Person später nicht mehr gewillt, euch in einem kritischen Moment unter die Arme zu greifen. Helft ihr einer Person bei offenkundig psychischen Problemen? Klar, es geht euch nichts an. Aber was ist, wenn die Person sich etwas antut? Bei all diesen Fragen und vielen weiteren, die auf euch zukommen, stellt ihr die Weichen für den weiteren Spielablauf und sogar für eines der fünf Enden. Ihr solltet euch also gut überlegen, wie ihr eurem Gegenüber begegnet.
Großes Drama mit ganz menschlichen Problemen
Über die Geschichte können wir euch leider nicht sehr viel mehr erzählen, ohne tief ins Spoiler-Territorium abzudriften. Ein paar Beispiele möchten wir aber grob umreißen, um die Brillanz der Autoren bei Deck Nine Games deutlich zu machen. Life is Strange wäre nicht Life is Strange, wenn die Protagonistin nicht früh mit einem harten Schicksalsschlag konfrontiert werden würde. Das ist auch in True Colors nicht anders. Im weiteren Verlauf des Spiels geht es darum, die Umstände dieser Katastrophe aufzuklären. Alex und ihre neuen Freunde haben nämlich berechtigte Zweifel an der offiziellen Version der Vorkommnisse.
Deck Nine Games verzichtet dieses Mal zwar auf das vorher etablierte Episodenformat, den übergeordneten Hauptplot erzählen die Autoren aber dennoch im Stil einer TV-Serie. Zum Beginn von jedem der fünf Kapitel wird auf das Ziel hingeleitet, das nicht sofort erreicht werden kann, sondern erst nachdem X oder Y erledigt wurde, um dann wieder zum Ende des Kapitels zum übergeordneten Plot zurückzukehren. Durch diese Erzählweise rückt die Haupthandlung etwas in den Hintergrund. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn Alex erfährt in Haven Springs derart viele Geschichten über die Bewohner, die ohne Ausnahmen überzeugend inszeniert sind, dass uns deren Erlebnisse fast schon mehr interessieren als unsere eigenen Probleme.
Die Macht der Empathie
Eine kleine Prise übernatürliche Fähigkeiten gehört in jedes Life is Strange. Alex' „Superkraft“ besteht darin, die Emotionen ihrer Mitmenschen nachfühlen und so auch ein stückweit ihre Gedanken wahrnehmen zu können. Um den Bewohnern und Freunden bei ihren Problemen zu helfen, ist diese Fähigkeit äußerst nützlich. Ein kleines Beispiel aus dem zweiten Kapitel, möglichst spoilerfrei: Eleanor ist die Besitzerin eines Blumenladens in Haven Springs. Plötzlich wirkt die ältere Dame jenseits der 60 irgendwie aufgewühlt und ängstlich. Alex’ Gabe erlaubt es ihr nachzufühlen, was mit Eleanor nicht stimmt. Häufig verändert sich die Optik der Umgebung etwas, um die Probleme der Figuren zu verbildlichen. Da Eleanor irgendwas vergessen zu haben scheint, legt sich in diesem Beispiel ein sanfter Nebel über den Boden des Geschäfts. Ihr müsst bestimmte Gegenstände analysieren, von denen eine Aura ausgeht. Die verraten euch mehr über das, was die Charaktere bedrückt. Habt ihr alles einmal angeklickt, könnt ihr im anschließenden Dialog die richtigen Dinge fragen, um die Blumenladenbetreiberin sanft in Richtung Lösung zu schieben. Therapeutin Alex hat wieder zugeschlagen.
Von dieser Art Geschichten ist jedes Kapitel voll. Nicht immer nehmen sie gleich viel Raum ein, aber ihr werdet immer mit sehr persönlichen Problemen, die auch durchaus unsere richtigen Nachbarn haben könnten, konfrontiert. Das macht Life is Strange: True Colors unglaublich lebendig und nahbar. Deck Nine Games gelingt es, den vielen ernsten Themen wie Trauerbewältigung, Eifersucht, schwerer Krankheit oder Liebe, die in der Geschichte ihren Platz finden, gerecht zu werden und in einer ganz persönlichen Rahmung zu behandeln.
Die Protagonistin Alex bleibt bei den vielen emotionalen Geschehnissen nicht auf der Strecke. Im Laufe des Spiels stellen sich nämlich zwei ihrer neuen Freunde als Love Interests heraus: ein junger und eher gelassenen Parkranger und die örtliche, recht extrovertierte Radiomoderatorin, die nebenbei noch einen auf Rockmusik spezialisierten Plattenladen betreibt und ein großes Faible für Fantasy und allerlei „Nerdkram“ hat. Für wen sich Alex entscheidet, bleibt euch überlassen. Die Romanze nimmt in der Geschichte zwar nicht viel Raum ein, sie definiert Alex aber weiter aus und reiht sie so mit der Zeit in die Riege der lebendigen Figuren von Life is Strange: True Colors ein.
Das Gameplay, … ja nun …
Eine tolle Geschichte, fantastische Nebenhandlungen und eine wunderschöne Welt! Aber wie sieht es mit dem eigentlichen Gameplay aus? Das kann leider, wie aber zu erwarten war, nicht die gleiche Tiefe erreichen wie die Erzählung. Ein Großteil der Interaktionen besteht aus Herumlaufen und mit Menschen sprechen. Allerdings lockert Deck Nine Games den Telltale-artigen Ansatz immer wieder mit kleinen Minispielen auf, beispielsweise einer Kicker-Partie oder den Arcade-Automaten, die hier und da in Haven Springs herumstehen. Besonders positiv ist uns das LARP in Erinnerung geblieben, auf das bereits im ersten Kapitel hingearbeitet wird und ungefähr zur Hälfte des Spiels stattfindet. Aus Spoiler-Gründen können wir euch leider nicht mehr dazu erzählen, aber jeder, der ähnliche Schwächen wie unsere weibliche Love Interest in sich vereinen kann, wird diesen Abschnitt lieben.
Sicherlich hätten die Entwickler aus einer Stadt wie Haven Springs mehr herausholen können, was Abwechslung angeht. Allerdings sind wir sehr froh, dass sich die Autoren auf die Geschichte konzentrieren und auf genügend Ressourcen zurückgreifen konnten, um sie auch kompetent zu erzählen. Life is Strange ist nie die Reihe gewesen, die von einer aufgeblasenen Open World profitiert hätte. Zwar gibt sich True Colors durchaus etwas offener als die sehr linearen Vorgänger, von einer echten Open World kann man hier aber trotzdem nicht sprechen – vielleicht von einem Semi-Open-Village. Höchstens.
Fazit
Deck Nine Games hat mit Life is Strange: True Colors im Grunde alles richtig gemacht. Dem Team ist es gelungen, eine geerdete Geschichte zu erzählen, die sich (die übernatürlichen Fähigkeiten einmal ausgeklammert) durchaus in einer echten US-Kleinstadt abspielen könnte. Die Story ist durchweg kompetent inszeniert und sowohl Haven Springs als auch seine Bewohner wachsen einem sehr schnell ans Herz – so schnell und so sehr, dass man ehrlich an ihrem Wohlergehen interessiert ist. Allerdings zeigt sich inzwischen eine gewisse Formelhaftigkeit. Ihr spielt eine junge Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten, die Teil des zentralen Gameplays sind, und müsst einen harten Schicksalsschlag aufarbeiten. Kommt euch auch bekannt vor, oder? Die beteiligten Studios sollten aufpassen, dass sie die Reihe mit den nächsten Titeln nicht in eine Sackgasse manövrieren.
- Fantastische Story
- Viele Nebenhandlungen
- Figuren mit glaubwürdigen Problemen
- Charaktere, die ans Herz wachsen
- Wunderschöne Spielwelt
- Sympathische Protagonistin
- Viele spannende Entscheidungen ...
- ... mit spürbaren Auswirkungen
- Toller Soundtrack
- Sinnvoll eingesetzte Empathie-Fähigkeit
- Kein Episodenformat mehr
- Viel Liebe zum Detail
- Kaum richtiges Gameplay
- Nie spielerisch herausfordernd
- Erste Formelhaftigkeit erkennbar
- Deutsche Srachausgabe durchwachsen