Judgment erbt die großen Stärken der Yakuza-Spiele, kombiniert sie aber mit neuen Schwächen. Doch was überwiegt am Ende?
Judgment im Test: L.A. Noire trifft Yakuza
Ein Strafverteidiger zu sein ist mit großer Verantwortung verbunden. Schließlich kommt man als solcher nicht drum herum, auch mal Leute zu verteidigen, die nicht irrtümlich vor Gericht stehen, sondern wirklich ein Verbrechen begangen haben. Takayuki Yagami war einst ein aufstrebender Rechtsanwalt, dem es sogar gelang, einen Freispruch für jemanden zu erwirken, der wegen Mordes angeklagt war. Doch nachdem der anschließend eine weitere Person umbringt, gibt sich Yagami die Schuld dafür und seinen Job auf. Seitdem arbeitet er als Privatdetektiv in Kamurocho, dem fiktiven Stadtteil Tokios, in den uns schon sieben Yakuza-Teile entführt haben. Judgment ist ein Spin-off, das nicht ein Mitglied der japanischen Mafia in den Mittelpunkt rückt, sondern besagten Ermittler. Passend dazu erweitert es das bekannte Yakuza-Gameplay um typische Detektivelemente. Gerade die erweisen sich jedoch nicht als Stärke des Spiels.
"Who done it" par excellence
Bevor wir Judgment beziehungsweise dessen Entwickler Ryu Ga Gotoku Studio tadeln, wollen wir aber erst mal Lob aussprechen. Das Spiel hat sogar recht viel Lob verdient, insbesondere für seine Geschichte. Die Yakuza-Titel sind bekannt für ihre spannenden, emotionalen Storys und die gut geschriebenen Charaktere. Judgment erbt diese Stärken. Es erzählt eine mitreißende Kriminalhandlung, bei der wir im Test jederzeit vor dem Bildschirm miträtselten, wer was getan hat.
Alles beginnt mit einer Serie an Morden. Der Captain der Matsugane-Familie, einem Ableger des Tojo-Clans, ist der Hauptverdächtige, wird verhaftet und Yagami soll für den zuständigen Rechtsanwalt Beweise finden, die das Yakuza-Mitglied entlasten. Das klingt nach etwas, das einen kompletten Sonntagabendkrimi fürs Fernsehen füllen könnte, in Judgment ist es aber lediglich der Auftakt zu einer locker 25 bis 30 Stunden langen Geschichte, in deren Verlauf ihr so manche Verschwörung innerhalb der Yakuza aufdeckt.
Zwischen Gesetz und Gesetzesbrechern
Die Story überrascht mit zahlreichen Wendungen und auch wenn ihr diesmal eine andere Perspektive einnehmt, hat sie dennoch genug typisches Yakuza-Feeling zu bieten. Yagami ermittelt nicht nur in den Kreisen der Mafia, er ist eng mit der Matsugane-Familie verbunden. Nur weil ihr einen Detektiv spielt, der Verbrechen aufklärt, heißt das noch lange nicht, dass Yagami ein strahlender Held ist, der sich stets an das Gesetz hält und am liebsten jeden Gangster hinter Gittern sehen möchte. Man könnte sagen, er folgt seinem eigenen Kompass und das macht ihn zu einem interessanten Protagonisten.
Sowieso vermeidet es Judgment, klassische Schwarz-Weiß-Zeichnung zu betreiben. Es gibt zwar einen offensichtlichen Antagonisten, doch davon abgesehen bietet der Titel vielschichtige Charaktere, die mehr zu bieten haben, als man auf den ersten Blick vermutet. Übrigens: Falls ihr Angst habt, irgendwas nicht zu verstehen, weil ihr noch keinen Yakuza-Teil gespielt habt, können wir euch beruhigen. Die Geschichte von Judgment steht auf komplett eigenen Beinen. Vorwissen ist nicht nötig, um hieran Spaß zu haben.
Klein, aber oho
Wie bereits erwähnt, spielt auch Judgment in Kamurocho, einem Rotlicht- und Vergnügungsbezirk, der auf dem realen Tokioter Stadtteil Kabukichō basiert. Kenner der Yakuza-Reihe fühlen sich somit direkt heimisch und erkennen viele Orte wieder. Neueinsteiger sollten sich bewusst sein, dass die Open World von Judgment nicht mit den Spielwelten anderer Titel wie GTA oder Watch Dogs vergleichbar ist. Ihr erkundet hier eben keine komplette Stadt samt Umland, sondern nur einen einzelnen Bezirk, der vermutlich Hunderte Male auf die Karte von GTA 5 passen würde.
Doch was die Welt von Judgment in Sachen Weitläufigkeit einspart, macht sie mit ihrem Tiefgang wieder wett. Wer einmal durch die Straßen und Gassen Kamurochos läuft, hat sofort das Gefühl, einen Hauch Japan beziehungsweise Tokio einzuatmen. Das Flair der Millionenstadt fängt Judgment wie seine indirekten Vorgänger brillant ein. Es gibt viele umherstreifende Passanten (die zwar gerne mal gegen Objekte laufen, aber sei's drum), laute Werbedurchsagen von den Geschäften und an jeder Ecke irgendwelche netten Details zu entdecken.
Da schnappt ihr zum Beispiel von einem NPC per Sprechblase über dessen Kopf auf, dass es in einer bestimmten Straße ein Katzencafé gibt. Und wenn ihr jene Adresse aufsucht, dann ist da auch wirklich ein solches Etablissements, in dem allerlei Fellträger auf den Tischen, Regalen und Co liegen. Ihr könnt hier zwar weder mit den Tieren noch dem Ladenbesitzer interagieren. Aber allein schon, dass sich die Entwickler die Mühe gegeben haben, solche Details, die typisch für Tokio sind, überhaupt abzubilden, spricht für sie.
Abgedrehte Nebenmissionen vs. ernste Hauptgeschichte
In Kamurocho gibt es aber nicht nur viel zu sehen, sondern auch zu tun. So klein die Spielwelt von Judgment auch sein mag, sie ist vollgestopft mit optionalen Inhalten, die die Spielzeit deutlich erhöhen. Beispielsweise gibt es 50 Nebenfälle, die Yagami parallel zur Haupthandlung angeht. Die greifen zwar spielerisch auf die gleichen Bausteine zurück wie die Hauptmissionen, erzählen aber allesamt eigene Geschichten. Hier kommt der typische Humor der Yakuza-Spiele zum Vorschein, der für westliche Geschmäcker sicherlich sehr speziell ist und noch dazu einen starken Kontrast zur absolut ernsten, düsteren Haupt-Story darstellt.
In einer Nebenmission zum Beispiel kommt ihr einem Typen namens Ass Catchem auf die Schliche. Dreimal dürft ihr raten, was der am liebsten macht. In einer anderen Quest sollt ihr einen gemeinen Höschendieb auf frischer Tat ertappen. Das geht am besten mit einem Köder. Nur was für Unterwäsche braucht ihr dafür? Na, das weiß doch bestimmt das Opfer am besten. Nun ja…
Minigames oder doch eher Maxigames?
Zusätzlich zu den Nebenfällen bietet Kamurocho noch viele andere Gelegenheiten, sich die Zeit vertreiben, wenn ihr euch mal eine Pause von der Story nehmen wollt (was schwerfällt, weil sie so spannend ist). Ihr könnt Freundschaften mit zahlreichen NPCs schließen, indem ihr ihnen kleine Gefallen erweist, Frauen daten, nach streunenden Katzen Ausschau halten oder euch mit einem der zahlreichen Minispiele vergnügen. Wobei der Begriff Minispiel einigen davon gar nicht gerecht wird. Man nehme nur mal die Drohnenrennen. Yagami hat eine eigene fliegende Drohne, die ihr mit sammelbaren Items nach und nach verbessert, um in immer anspruchsvolleren Rennligen mithalten zu können. Das Ganze ist vergleichbar mit den Slotcar-Rennen in Yakuza 0, nur besser, weil ihr die Drohne eben komplett selbst lenkt.
Ebenfalls recht viel Zeit lässt sich in "Dice & Cube" stecken. Das ist eine Art Brettspiel, bloß in VR. Euer Ziel ist es, mit begrenzten Würfelwürfen ans Ziel zu kommen und auf dem Weg dahin so viele Items wie möglich einzusacken, die am Ende in Yen eingetauscht werden. Dabei müsst ihr hin und wieder kämpfen oder auch Schlösser unter Zeitdruck knacken. Des Weiteren hat Judgment mit "Kamuro of the Dead" seinen eigenen kleinen Rail-Shooter, der an das Spin-off Yakuza: Dead Souls angelehnt ist, ihr könnt Darts spielen, im Batting-Center den Baseballschläger schwingen, die traditionellen Spiele Mahjong und Shogi zocken, in Yagamis Büro flippern oder im Kasino euer Glück beim Poker sowie Blackjack auf die Probe stellen. Und dann kommen noch die SEGA-Arcade-Hallen obendrauf, wo ihr unter anderem Puyo Puyo, Fantasy Zone und sogar die komplette Arcade-Fassung von Virtua Fighter 5: Final Showdown daddeln könnt. Es ist also sehr gut möglich, Stunden um Stunden mit Judgment zu verbringen und die Hauptgeschichte einfach links liegen zu lassen.
Detektiv mit schlagkräftigen Argumenten
Jetzt haben wir schon so viel geschrieben und noch kein Wort über das Kern-Gameplay von Judgment verloren. Das lässt sich in zwei Bereiche aufteilen: die Elemente, die bereits aus den Yakuza-Spielen bekannt sind und die neuen Features, die dank der Detektivthematik Einzug gehalten haben. Ersterer ließe sich eigentlich schnell abhandeln, denn die Yakuza-Reihe ist nun nicht dafür bekannt, wahnsinnig viele Spielmechaniken zu bieten, wenn wir mal die Minigames ausklammern. Stattdessen konzentriert sie sich vor allem auf klassisches Beat'em up und das sind genauso in Judgment zu finden.
Yagami ist nicht nur ein hervorragender Detektiv, sondern auch in Martial Arts geschult. Er beherrscht zwei Kampfstile: Der Kranichstil ist vor allem für Gegnergruppen gedacht, der Tigerstil wiederum eignet sich am besten gegen einzelne, stärkere Kontrahenten. Beide haben ihre eigenen Combos und spielen sich schön unterschiedlich, per Knopfdruck wechselt ihr jederzeit während der Kämpfe zwischen ihnen.
Die Prügeleien in Judgment spielen sich vielleicht nicht ganz so flüssig wie zum Beispiel in einem Marvel's Spider-Man, bereiten aber dank des breiten Move-Repertoires und der Möglichkeit, umherliegende Gegenstände kurzzeitig zu Waffen umzufunktionieren, trotzdem jede Menge Spaß. Nur die Zufallskämpfe auf den Straßen Kamurochos (es gibt viele Gruppen, die aufmucken und nach einer Tracht Prügel schreien) können manchmal etwas lästig sein. Übrigens schaltet ihr wie in den Yakuza-Spielen mit der Zeit immer mehr Fähigkeiten frei. Dafür braucht ihr Skill-Punkte, die ihr für Kämpfe sowie abgeschlossene Missionen und Freundes-Events erhaltet. Je mehr Kampffertigkeiten ihr freischaltet, desto spaßiger werden die Kloppereien – so muss das sein!
Vernehmungen waren noch nie so einfach
Der ganze Detektivkram in Judgment ist auf dem Papier eine willkommene Abwechslung zu den Kämpfen. In der Praxis machen sich hier jedoch, wie eingangs angedeutet, die größten Mankos des Actionspiels bemerkbar: Keines der neuen Spielelemente will so richtig gut funktionieren. Nehmen wir mal als Beispiel die interaktiven Dialoge. In Judgment gibt es genau wie in den Yakuza-Titeln sehr viele Zwischensequenzen. Die laufen nun erstmals nicht komplett autonom ab. Bei Zeugenbefragungen müsst ihr die richtigen Fragen stellen, bei Vernehmungen von Verdächtigen die passenden Beweise vorlegen, um die Infos zu erhalten, die ihr haben wollt. Das erinnert an Rockstars L.A. Noire oder auch die "Sherlock Holmes"-Spiele von Frogwares.
Das Problem: Ihr könnt hierbei nichts wirklich falsch machen. Entscheidet ihr euch mal für eine falsche Dialogoption, dürft ihr euch direkt im Anschluss korrigieren. Die einzige Konsequenz, die sich daraus ergibt: Euch gehen Bonus-Skill-Punkte flöten. Ihr könnt also keine Fälle vergeigen und generell müsst ihr eure Hirnzellen auch nie wirklich stark anstrengen. Hier verschenkt Judgment viel Potenzial.
Wenn das Beschatten zum Slapstick wird…
Der größte Design-Fauxpas ist den Entwicklern aber bei den sogenannten Verfolgungsmissionen unterlaufen. Sehr häufig müsst ihr eine Person beschatten, ihr also unauffällig bis zu einem bestimmten Punkt folgen. Wird sie misstrauisch, füllt sich ein Balken und wenn der komplett voll ist, ist die Observierung gescheitert. Klar, so was passt gut zu der Detektivthematik, die Umsetzung ist aber vollkommen misslungen. Ein Beispiel: Ihr verfolgt im Zuge eines Falls eine Dame, die euch noch nie zuvor gesehen hat. Sie geht los, ihr hinterher. Nach wenigen Metern bleibt sie stehen, dreht sich um, sieht euch und der Balken füllt sich. Allein das ist schon mal großer Blödsinn, denn wie gesagt: Ihr seid ein Fremder für die Frau, der für ein paar Sekunden den gleichen Weg gegangen ist wie sie – und zig andere Passanten ebenso, nebenbei bemerkt.
Ok, die Zielperson wird misstrauisch, ihr müsst also irgendwas tun. Was ist wohl in dieser Situation am sinnvollsten? Einfach umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung laufen? Nein! Viel besser ist es, vor den Augen der Dame hinter einen Müllcontainer zu huschen. Denn das beruhigt sie, der Balken leert sich wieder und Fräulein "Ich glaube, der Typ, der sich da hinterm Müll versteckt, verfolgt mich nicht" geht sorgenfrei weiter, bis sie sich nach ein paar Metern erneut umdreht und ihr ein anderes Versteck aufsuchen müsst. Ihr habt es vielleicht bemerkt: Das ergibt von vorne bis hinten keinen Sinn. Und Spaß macht es auch nicht. Immerhin sind diese Missionen dadurch so einfach, dass ihr euch schon anstrengen müsst, um sie zu vergeigen, sodass wenigstens der Frustfaktor bei 0 bleibt.
Die anderen neuen Spielelemente sind ebenfalls keine Game-Design-Hochkunst. Seien es nun die Untersuchungsmissionen, in denen ihr in der Ego-Perspektive Bereiche nach Hinweisen absuchen müsst, oder Aufgaben, bei denen ihr Fotos schießt und es dabei bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen gilt. Diese Passagen sind eine nette Abwechslung zur Action, aber wer eben ein richtiges Detektivspiel erwartet hat, bei dem man selbst viel rätseln und Schlüsse ziehen muss, könnte enttäuscht werden.
Englischkenntnisse nicht mehr Pflicht
Technisch bewegt sich Judgment auf solidem Niveau. Gerade in den aufwändiger inszenierten Zwischensequenzen (hier gibt es durchaus qualitative Unterschiede) sehen die Charaktermodelle wirklich gut, wenn auch nicht überragend aus. Die Umgebungen sind stets detailliert gestaltet, allerdings fehlt dem Titel der "Wow"-Faktor, wie ihn andere PS4-Exklusivspiele wie God of War bieten. Klar, Judgment ist eben kein AAA-Spiel, da muss man grafisch mitunter einige Abstriche in Kauf nehmen.
Dafür lässt es sich in Sachen Sound so gut wie gar nicht lumpen. Die Musik gefällt uns gut, vor allem aber die Sprachausgabe ist schlicht fantastisch. Das Besondere an Judgment: Es ist der erste Titel aus dem Yakuza-Universum seit Yakuza 1, der über eine englische Vertonung verfügt. Die englischen Sprecher machen ihre Sache richtig gut, wir haben zugunsten der Authentizität aber größtenteils doch mit der japanischen Sprachausgabe gespielt, die gewohnt gut ist. Und falls ihr weder des Japanischen noch des Englischen mächtig seid, ist das nicht schlimm. Denn Judgment bietet komplett deutsche Texte. Die wurden offensichtlich aus dem Japanischen übersetzt. Wenn ihr also mit englischem Ton und deutschen Texten spielt, werdet ihr einige Diskrepanzen entdecken.
Schade ist nur, dass nicht alle Gespräche in Judgment vertont sind. Nur in der Hauptgeschichte hat jeder Charakter eine Stimme, die ganzen Nebenmissionen setzen rein auf Textboxen – auch wieder ein Manko, dass dem verhältnismäßig niedrigen Budget geschuldet sein dürfte. Aber da die Hauptstory so umfangreich ist, gibt es trotzdem jede Menge Sprachausgabe in Judgment.
Fazit
Judgment könnte man als Enttäuschung auf hohem Niveau bezeichnen, wenn man das denn wollte. Denn es ist sehr schade, dass ausgerechnet all die neuen Elemente, die die Entwickler passend zur Detektivthematik eingebaut haben, nicht so sehr überzeugen. Was sich die Designer bei den Verfolgungsmissionen gedacht haben, können wir uns nicht erklären. Aber immerhin sorgt das alles für reichlich spielerische Abwechslung und es mindert nicht den Eindruck, ein richtig gutes Action-Adventure zu zocken.
Das liegt vor allem daran, dass die Geschichte von Judgment sehr spannend ist und interessante Charaktere bietet. Und genau wie die Yakuza-Teile ist dieses Spin-off sehr Story-lastig. Daher wiegt dieser Pluspunkt einfach mehr als die spielerischen Macken. Hinzu kommt die gut gefüllte Spielwelt, die tollen Nebenmissionen, die spaßigen Kämpfe und die gute Vertonung. Yakuza-Fans haben vermutlich eh längst zugegriffen. Davon abgesehen können wir Judgment jedem empfehlen, der Lust auf einen umfangreichen, spannenden Thriller zum Selberspielen hat und eine PS4 besitzt.
- Spannende Story mit interessanten Figuren
- Spaßiges Kampfsystem
- Sehr viel optionaler Inhalt
- Gute Nebenmissionen
- Tolle Vertonung
- Peinlich schlechte Verfolgungsmissionen
- Neue Spielelemente insgesamt durchwachsen
- Nebenquests ohne Sprachausgabe