Autorin: Katja Rittig / Wortgestalt
Wir haben eine befreundete Literaturkritikerin gefragt, ob sie die Wurzeln des Cyberpunk-Genres für uns näher erläutern kann.
Autorin: Katja Rittig / Wortgestalt
Wir haben eine befreundete Literaturkritikerin gefragt, ob sie die Wurzeln des Cyberpunk-Genres für uns näher erläutern kann.
Mit "Cyberpunk 2077" bringt Spieleentwickler CD Projekt RED dieser Tage eines der meist herbeigesehnten Releases des Jahres auf den Markt. Eben jenes Studio, das schon mit seiner Witcher-Reihe bewiesen hat, wie komplex und bildgewaltig man literarische Vorlagen für Gaming-Erlebnisse adaptieren kann. Und "Cyberpunk 2077" soll dem in nichts nachstehen.
Auch wenn "Cyberpunk 2077" natürlich keine direkte Verarbeitung eines literarischen Stoffes ist, sondern als eine Art Weiterführung der Pen-&-Paper-Rollenspiele von Mike Pondsmith fungiert, verzeihe man mir diesen kleinen gedanklichen Schlenker als Einstieg und zurechtgebogene Überleitung, um auf William Gibsons Roman "Neuromancer" zu sprechen zu kommen.
Der ist für "Cyberpunk 2077" nämlich insofern interessant, als dass er als der Prototyp der Cyberpunk-Literatur gehandelt wird. Und da es das (pop-)kulturelle Phänomen Cyberpunk ohne die literarische Bewegung der frühen 1980er Jahre so vermutlich nicht gegeben hätte, ist es nur recht und billig, sich im Rahmen dieses Spielstarts einmal kurz mit den Anfängen der Idee "Cyberpunk" zu beschäftigen.
Und da diese Entwicklung natürlich ausreichend komplex und anekdotenreich ist, um ganze Bücher darüber schreiben zu können (was einige kluge Köpfe im Übrigen auch getan haben und wer sich einmal ganz ausführlich und grundlegend mit den Wurzeln und Konzepten der Cyberpunk-Literatur beschäftigen mag, dem sei "Cyberpunk Science Fiction - Literarische Fiktionen und Medientheorie" von Jiré Emine Gözen empfohlen), kann man eigentlich nur scheitern, wenn man versucht, hier in diesem Rahmen mal eben kurz das Phänomen "Cyberpunk" zu erfassen.
Denn man sollte sich nicht täuschen lassen, "Cyberpunk" war in seiner Idee mehr als grungy und edgy Zukunftswelten, Neonlichter und Underdogs, die zwischen Bioware und Transplantaten in der Halbwelt anonymer Megacitys Deals abwickeln. Und doch ist all das ein nicht geringer Teil dessen, was für viele (mich eingeschlossen) den Spaß an diesen Geschichten ausmacht. Und deshalb, harter Schnitt, Willkommen in Night City!
Night City, das ist in William Gibsons Debütroman "Neuromancer" aus dem Jahre 1984 der Ort, an dem die Geschichte von Case beginnt. Case, einst ein begnadeter Hacker, der den Fehler machte, seine Auftraggeber zu hintergehen (Friendly Reminder: Beiße nie die Hand, die dich füttert.), kämpft nun in den Straßen von Night City mit den Resten seines Daseins. Denn sein geprellter Auftraggeber rächte sich in Zeiten, in denen abgetrennte Gliedmaßen dank Biotechnologie und Transplantaten kein allzu nachhaltiges Mittel der Bestrafung mehr darstellen, mit einer invasiveren Methode und schädigte mit einem Toxin sein Nervensystem. Die so entstandenen neuronalen Schäden machen es Case seitdem unmöglich, sich in den Cyberspace einzuklinken.
Und so wurde aus dem talentierten Konsolenfreak ein einfacher Hehler, der auf der Straße mit synthetischen Drüsenextrakten, Gen- und Hormonmaterial dealt und sich mit Drogen und suizidalem Sozialverhalten versucht aus einer Welt herauszukatapultieren, die ihm nichts mehr geben kann.
Dann taucht eines Tages die Söldnerin Molly in Night City auf und rekrutiert Case für einen Run, den ihr Arbeitgeber Armitage plant. Software stehlen von einem großen Konzern, früher das Kerngeschäft von Case. Armitage ist ein aalglatter Typ, undurchsichtig und sparsam mit Informationen, seine wahren Absichten ein Rätsel, ebenso wie seine Vergangenheit. Doch das Angebot, das er Case macht, ist fast im corleonschen Sinne eines, das er unmöglich ausschlagen kann. Armitage bietet ihm die vollständige Heilung seines zerstörten Nervensystems, im Gegenzug muss Case für einige Aufträge seinem Team zur Verfügung stehen. Für Case käme das einer Erlösung gleich. Er willigt ein und findet sich schon bald für einen Plan instrumentalisiert, hinter dem weit mehr steckt als bloßer Datendiebstahl.
William Gibson entwickelt aus dieser Ausgangssituation heraus einen Roman, der für das Genre der Cyberpunk-Literatur so etwas wie der kommerzielle Durchbruch war. "Neuromancer" sackte alle wichtigen Science-Fiction-Literaturpreise ein und bescherte der Bewegung der Cyberpunk-Literaten eine entsprechend breite Aufmerksamkeit. Über die Jahre wurde aus dieser literarischen Bewegung dann das popkulturelle Phänomen, das sich in diversen medialen Artefakten niederschlug und dessen Ästhetik bis heute begeistert.
Was Gibsons Werk aber zu so einem Erfolg machte, war nicht zuletzt sicher auch ein Verdienst seiner sprachlichen, seiner stilistischen Vision, die er mit diesem Roman zu Papier brachte. Denn auch wenn nüchtern betrachtet hier eine Geschichte erzählt wird, die eigentlich relativ schlicht, ja gar eintönig aufgebaut ist, relativ linear erzählt wird, ist es doch Gibsons Sprache, seine Fülle an Wortneuschöpfungen, die Bildhaftigkeit und Poesie, die in manchen Sätzen liegt, die absolut faszinierend ist und eine ganz eigene Illusion von Wirklichkeit erzeugt.
William Gibson hat dazu vor einigen Jahren in einem Interview erzählt, dass er viele Ideen für "Neuromancer" aus Gesprächen mit Menschen habe, die damals in der Computerindustrie gearbeitet haben und erklärt weiter:"I did not understand what they were talking about, but I took it as poetry. I loved the poetry of it. Just taking the technical language knowing nothing about it and imagining what it could mean."
Und in diesem Zitat liegt für mich dann auch ein Stück weit der Schlüssel zu Gibsons Schreiben von "Neuromancer". William Gibsons Sprache entwickelt eine ganze eigene Ästhetik, eine Art technophile Poesie und die ist schlichtweg wunderschön und macht seinen Roman so lesenswert.
Es gäbe noch weit mehr, worüber es sich im Kontext von "Neuromancer" und der Cyberpunk-Literatur zu sprechen lohnen würde. Die technischen Ideen, die William Gibson in seinem Roman zum Leben erweckt, erweiterte Realitäten, Künstliche Intelligenzen, Körpermodifikationen, dann die Einflüsse der Noir- und Hard-boiled-Kriminalliteratur, die surrealen und posthumanistischen Momente.
Aber das sollte man lieber alles selbst erfahren und so entlasse ich geneigte Leser*innen am Ende meiner Ausführungen mit dem Beginn von „Neuromancer“: „The sky above the port was the colour of television, tuned to a dead channel.“
William Gibsons Roman „Neuromancer“ ist der Auftakt seiner Sprawl-Trilogie, die 1986 mit „Count Zero“ fortgesetzt und 1988 mit „Mona Lisa Overdrive“ abgeschlossen wurde.