Jens wollte verstehen, warum Animal Crossing: New Horizons so gefeiert wird. So ganz rafft er es immer noch nicht.
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Es ist wie eine Droge
Ich konnte nie etwas mit Animal Crossing anfangen. Jedes Mal, wenn ich einzelne Bilder aus den Spielen gesehen habe, dachte ich mir nur: "Ne, das ist mir zu niedlich, zu kindisch." Mehr Gedanken habe ich mir nie darüber gemacht, weil ich mich niemals eingehender mit der Reihe beschäftigte. Es war in meinem Wahrnehmungshorizont nie ein großes Thema. "Ja, das spielen halt ein paar Leute", sagte ich mir immer. In der jüngeren Vergangenheit wurde mir dann aber bewusst: Nein, das ist keine kleine Marke, die Nintendo so nebenbei neben Super Mario, The Legend of Zelda, Pokémon und Co macht. Animal Crossing ist ein Blockbuster – ohne wie der typische Blockbuster zu wirken.
Je näher der Release von Animal Crossing: New Horizons rückte, desto klarer wurde mir das. Ich begann zu verstehen, warum es besonders problematisch gewesen sein muss, dass es im März zu Lieferengpässen der Nintendo Switch aufgrund der Coronakrise kam, wo doch just in dem Monat besagte Lebenssimulation erschienen ist. Denn die ist das, was man auch einem The Legend of Zelda: Breath of the Wild und Super Mario Odyssey nachsagt, zu sein: ein System-Seller. Und ein Kritikerliebling. Auf Metacritic hat das Spiel eine Durchschnittswertung von sage und schreibe 91.
Diese Zahl ließ mich aufhorchen: Warum wird Animal Crossing: New Horizons so gut bewertet? Wieso finden viele Menschen das Spiel so toll, dass sie es zu einem der derzeit Besten küren, die man derzeit kaufen kann? Meine Neugier war so groß, dass ich nicht anders konnte, als 60 Euro in die Hand zu nehmen und das Spiel zu erwerben – nicht, weil ich Lust hatte, es zu spielen, sondern rein aus, sagen wir mal, kulturellem Interesse.
"Nur mal kurz reinschauen"
Wir schreiben den 20. März 2020. Aufgrund der Coronakrise sitze ich im Home Office. Das hat so manchen Vorteil, etwa dass ich, wenn denn ein neues Spiel erscheint, sofort den entsprechenden Download starten kann. Was mache ich also? Ich kaufe mir Animal Crossing: New Horizons, lade es tagsüber herunter und nachdem ich gegen 17 Uhr meine letzten Sätze für den Tag eingetippt habe, starte ich meinen virtuellen Inselurlaub. Ich könnte auch alternativ Doom Eternal spielen, das – nebenbei bemerkt – ein fantastischer Ego-Shooter ist und viel mehr meinem persönlichen Geschmack entspricht. Aber nein, ich spiele Animal Crossing: New Horizons. Ich möchte erforschen, was dieses Spiel hat, dass es alle Welt so abfeiert.
Eigentlich will ich an jenem Abend bloß mal eine Stunde lang reinschauen, denn der Magen knurrt bereits. Tja, nicht mit Animal Crossing! Ja, man kann New Horizons wunderbar bloß eine Stunde am Tag spielen und das klappt auch bei mir ganz gut. Aber wenn man es das erste Mal angemacht hat, vergisst man schnell, wie viel Zeit man dafür eigentlich aufwenden wollte. Und so werden aus einer zwei Stunden.
Zugegeben, das mag immer noch sehr harmlos klingen im Vergleich zu Aussagen anderer der Marke: "Ich wollte nur mal kurz ein wenig Holz hacken und dann war es 3 Uhr in der Nacht und ich habe 8 Stunden am Stück gezockt." Der Punkt ist aber der: Würde mein Magen um 19 Uhr nicht richtig laut auf sich aufmerksam machen, während ich in meine Küche schaue und merke, dass ich ja vorm Kochen noch den Abwasch machen muss, weil nichts Sauberes mehr vorhanden ist, würde ich noch länger in meiner neuen zweiten Heimat verweilen.
"Laaangweilig!"
Es ist seltsam, dass mich Animal Crossing: New Horizons direkt gepackt hat – und zwar für mich selbst. Denn eigentlich wurde mir schon innerhalb der ersten zwei Stunden vollkommen klar, mit was für einer Art Spiel ich es hier zu tun habe: mit einem enorm repetitiven, langweiligen Crafting-Spiel, das in mir keinerlei intrinsische Motivation hervorruft. Denn was mache ich die ganze Zeit? Ich schüttele an Bäumen, um Äste zu bekommen, und sammle Steine ein. Recht schnell erhalte ich die Option, mir eine Axt zu basteln, sodass ich Holz abbauen kann. Dann kommt noch eine Angel hinzu, um Fische zu fangen, und ein Kescher, mit dem ich auf Insektenjagd gehe. Ja, und das wären dann eigentlich auch schon alle Spielmechaniken. Gut, später kommt noch eine Schleuder hinzu, mit der ich Geschenke tragende Ballons abschießen kann, aber das macht den Kohl auch nicht mehr fett.
Animal Crossing: New Horizons gibt mir spielerisch so gut wie nichts. Die wenigen Mechaniken, die es bietet, sind so simpel, wie es nur geht. Das Angeln ist noch die komplexeste Tätigkeit, weil ich den Köder im richtigen Winkel zur Position des Fisches auswerfen und dann im passenden Moment die Aktionstaste gedrückt halten muss, um auch wirklich was an Land zu ziehen. Aber auch Angelmechaniken habe ich in anderen Spielen schon in deutlich besserer Form erlebt.
Niemand kann mir erzählen, dass es ihm Spaß macht, in Animal Crossing: New Horizons Holz zu hacken. Und wenn es doch einer versucht, werde ich es ihm niemals abkaufen. Ich rede hierbei lediglich von der Aktion selbst, dem Gameplay, dem, was ihr tut: euch einem Baum nähern und dann so häufig die Aktionstaste drücken, bis kein Stück Holz mehr auf den Boden fällt. Anschließend sammelt ihr die Items ein – und zwar jedes einzeln! Wer geglaubt hat, das sei eine gute Idee, spielt wohl seine eigenen Spiele nicht.
Eine Karotte nach der anderen
Das "Problem" mit mir und Animal Crossing: New Horizons ist, dass es mich zu dem Zeitpunkt, als ich begriff, wie wenig es spielerisch zu bieten hat, längst eingelullt hat. Schon nach wenigen Minuten konnte ich nicht anders, als all die putzigen Figuren, die so liebevoll animiert sind, und die herrlich kindlich geschriebenen Dialoge in mein Herz zu schließen. Was mich früher abgestoßen hat, finde ich heute total niedlich.
Hinzu kommt die extrinsische Motivationskarotte, die sehr schnell in Animal Crossing: New Horizons greift. Ich möchte mein Haus haben, das Museum, den Laden der Nooks. Dazu kommen die kleinen Belohnungen, die ihr ständig erhaltet, während ihr der langweiligen Fleißarbeit nachgeht. Alle Nase lang gibt es Meilen, weil ihr wieder mal fünf Fische geangelt, zehn Insekten gefangen und 30 Mal Holz gehackt habt.
Mit den Meilen kauft ihr euch dann nützliche Dinge wie etwa den Werkzeuggürtel, damit ihr nicht jedes Mal ins Inventar gehen müsst, um ein Tool wie die Axt oder den Kescher auszurüsten. Ich bin zwar der Meinung, dass so ein Feature von Haus aus nutzbar sein sollte, aber das sei mal dahingestellt. Darüber hinaus verkaufe ich Items, die ich nicht brauche, und erhalte dafür Sternis. Mit denen zahle ich einerseits mein Haus ab, andererseits kann ich mir davon aber auch Möbel kaufen, mit denen ich meine eigenen vier Wände einrichte.
Wo das Leben noch unbeschwert ist...
Das bringt mich zum nächsten Punkt: der eigentlichen Faszination von Animal Crossing. Das Spiel gibt mir die Möglichkeit, mich auszuleben, selbst zu verwirklichen, indem ich meine Insel nach meinen Wünschen gestalte. Ich entscheide, wie das Eiland aussieht, wo welche Gebäude stehen. Ich dekoriere mein Haus, ich lege einen wunderschönen Garten an, errichte einen Spielplatz und so weiter.
Animal Crossing: New Horizons ist Eskapismus in Reinkultur. Gerade in einer so schwierigen Zeit wie der Aktuellen, in der ein Virus grassiert, Unternehmen in finanzielle Bedrängnis geraten und man sich nicht mehr mit seinen Freunden treffen soll, kommt so ein Spiel gerade recht. Animal Crossing entführt mich in eine friedliche, schöne Welt, in der das Leben unbeschwert ist, es keine Gefahren gibt, kein Leid. Ja, ich muss einen horrenden Kredit für mein Haus abbezahlen, aber dafür kann ich mir so viel Zeit lassen, wie ich will. Es gibt keinen Druck in Animal Crossing. Und das ist ohne jeden Zweifel schön und ein guter Ausgleich zum echten Leben sowie zu anderen Spielen.
Ich könnte doch so viel Besseres spielen
Aber dann denke ich wieder daran, was ich tun muss, damit ich in Animal Crossing: New Horizons dem Eskapismus so richtig schön frönen kann – damit ich meine Insel gestalten kann, wie es mir beliebt. Ich muss Holz hacken, ich muss Steine kloppen, ich muss Äpfel sammeln, denn ich brauche Materialien und Sternis, um mir die ganzen schicken Möbel und Co kaufen oder selbst herstellen zu können.
Jedes Mal, wenn ich wieder alle Bäume auf meinem Eiland abklappere, frage ich mich: "Warum mache ich das? Das macht mir doch eigentlich gar keinen Spaß. Ich könnte jetzt auch Doom Eternal spielen, das so ein fantastisches Gameplay hat, bei dem jeder erschossene Dämon eine Befriedigung darstellt. Ich könnte Persona 5 Royal zocken, das mich in eine faszinierende Welt hineinzieht und mir eine spannende Geschichte mit interessanten Charakteren präsentiert. Und ich könnte Half-Life: Alyx spielen, dessen VR-Konzept mich auch nach mehreren Spielstunden immer noch staunen lässt, ein fantastisches Leveldesign hat und obendrein noch nostalgische Gefühle in mir weckt."
Ja, ich investiere in all diese Titel meine Freizeit. Es ist nicht so, dass ich derzeit nur Animal Crossing spielen würde, aber ich spiele es doch regelmäßig. Und jede dieser Sessions belegt eben Zeit, die ich für die genannten Alternativen aufwenden könnte. Die sind meiner Ansicht nach als Spiele deutlich besser, weil sie mir in Sachen Gameplay und Story mehr bieten (ok, bei Doom streicht ihr letzteres bitte).
Alle Welt vergöttert Animal Crossing, aber warum?
Warum Animal Crossing: New Horizons in Bezug auf die Kritikerwertungen in derselben Liga mitspielt, erschließt sich mir nicht. In meinen Augen ist es als virtueller Baukasten, als Realitätsflucht gut, aber auch längst nicht auf dem Niveau eines Minecraft, in dem ich noch viel mehr Gestaltungsfreiheiten habe. Und als Spiel finde ich Animal Crossing: New Horizons sogar ziemlich schwach. Trotzdem spiele ich es und habe Spaß daran, eben aus den oben genannten Gründen. Es ist irgendwie wie eine Droge, nur mit dem Vorteil, dass es mir körperlich nicht schadet: Ich weiß, dass es eigentlich nicht gut ist, dass ich viel bessere Dinge konsumieren könnte, aber ich komme nicht davon los.
Welche Wertung ich Animal Crossing: New Horizons geben würde? Darauf eine Antwort zu geben, fällt mir wirklich nicht leicht. Sicherlich keine 90 (oder eben 4,5 bis 5, wenn wir bei unserem Wertungssystem bleiben). Aber ich täte mich auch schwer damit, ihm eine unterdurchschnittliche Note zu geben, denn es macht ja schon Spaß. Und es will ja auch gar nicht mehr sein als das, was es ist. Es will keine spielerischen Herausforderungen bieten. Es will nicht komplex sein. Warum es aber gleich auf so ein hohes Podest gehoben wird, entzieht sich meinem Verständnis.
Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass es so ein Spiel wie Animal Crossing: New Horizons geben darf, vielleicht sogar muss. Nicht nur in einer Zeit, in der wir gerade leben, sondern allgemein. Jeder hat mal in der Realität mit Dingen zu kämpfen. Sich dann in diese herzliche, sorgenfreie Welt von Tom Nook und Co zu begeben, ist eine Kur für die Seele. Aus einer psychologischen Sicht ist es voll verständlich, warum so viele Leute Animal Crossing lieben und warum auch ich dem Spiel ein bisschen verfallen bin.
Da ich das nun erkannt habe, bereue ich es auch gar nicht, die 60 Euro für ein Spiel ausgegeben zu haben, dass ich eigentlich gar nicht spielen wollte. Das hat sich ja sogar gewandelt, also habe ich alles richtig gemacht, oder? Nun, ja, irgendwie schon. Und trotzdem werden mich die oben genannten Gedanken auch in Zukunft jedes Mal begleiten, wenn ich mal wieder in Animal Crossing: New Horizons Holz hacke. Denn das wird mir auch weiterhin keinen Spaß machen. Und doch muss ich es tun, weil ich das Holz ja brauche. Es ist ein Teufelskreis. So, und nun geht es schon wieder auf meinen Feierabend zu und ich hab heute noch nicht auf meiner Insel vorbeigeschaut. Ihr wisst also, was das heißt. Gut, dass ich heute schon gegessen habe.